Kreischende Möwen, das Gluckern von Wasser, das gegen das Hafenbecken prallt. In der Nase der Geruch von frischer Luft, Sonnencreme und abgefahrenen Fahrradreifen. Es ist ein Spätherbst-Vormittag in Onomichi, einer Hafenstadt am westjapanischen Seto-Binnenmeer, rund zwei Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln von der Stadt Hiroshima entfernt. Hier tragen auffällig viele Menschen Fahrradhelme – denn Onomichi ist einer der Startpunkte der Shimanami Kaidō, ein rund 70 Kilometer langer Fahrradweg, der über sechs Inseln und sieben Brücken (darunter die einst längste Hängebrücke der Welt, die Kurushima-Brücke) hinweg die Hauptinsel Honshū mit dem Zielort Imabari auf der Insel Shikoku verbindet.
Die gesamte Strecke in einem Stück anzugehen ist ein ambitioniertes Ziel. In einem der hippen Fahrradverleihe in Onomichi (und davon gibt es zahlreiche) empfiehlt der junge Verkäufer normalsportlichen Radler:innen, sich lieber nur die Hälfte des Weges vorzunehmen: rund 35 km bis nach Setoda auf Ikuchijima und dann mit der Fähre zurück. Alternativ könne man mit der Fähre erst nach Setoda fahren, von dort bis Imabari radeln und dann mit dem Bus den Rückweg antreten. Am einfachsten sei das mit dem E-Bike, um die steilen Anstiege zu den Brücken zu überwinden, aber ohne Vorreservierung wäre das schwierig, erklärt er. Bleibt nur noch eine bunte Auswahl ganz analoger Drahtesel: die letzten schneidigen Rennräder, ein niedliches blaues Hollandrad, das Lastenrad mit dem riesigen Korb, der dafür prädestiniert ist, dass das gesamte Gepäck darin landet und die zwei Klappräder, die jeden Anstieg zu einer kleinen Tortur machen könnten. Das nächste Mal lieber über die offizielle Website der Shimanami Kaidō buchen oder in einem der Geschäfte anrufen.
Achtung, Linksverkehr!
Nachdem Sattel und Helm eingestellt sind, geht es los: Die erste Fähre bringt Mensch und Rad für eine kleine Gebühr auf die erste Insel des Tages, Mukaishima. Die anfängliche Sorge, den Weg nicht zu finden, weil Schilder vielleicht nur auf Japanisch beschriftet wären, verfliegt schnell – statt auf ein kompliziertes System mit unterschiedlichen Symbolen oder Farben, wie man es von deutschen Wanderwegen kennt, setzt die Shimanami Kaidō auf eine blaue Linie, die sich vom Start bis zum Ziel auf der Straße entlangzieht. Die einzige wirkliche Herausforderung ist wohl der Linksverkehr, der insbesondere beim Rechtsabbiegen einen Moment der Konzentration erfordert.
Die Autos bleiben bis zum Ende der Tour ein ständiger Begleiter, doch das stört nicht so sehr, wie zunächst vermutet. Zum einen nehmen die meisten Verkehrsteilnehmenden Rücksicht auf die Fahrräder und zum anderen ist es immer noch das japanische Land, und nicht die Metropole Tōkyō – ganz so stark sind die Straßen nicht befahren.
Zitronen und Dinosaurier
Über Kilometer erstrecken sich Reisfelder und Zitronenplantagen. Zitronen und Zitrusfrüchte sind eine überraschende lokale Spezialität, die in unzähligen Läden, in Form von Törtchen, ZSchnaps und im Kilo-Pack, feilgeboten werden. Alte Bauernhäuser mit prachtvoll geschwungenen Pagoden-Dächern, wie man sie eher in der Hauptstadt, als neben einem Acker erwartet hätte, treffen auf moderne Pachinko-Spielhallen, die auch nicht so recht ins ländliche Bild passen. Fein zurecht gemachte ältere Damen im Kimono sitzen vor ihren Geschäften und verkaufen für ein kleines Geld frisches Obst. Junge Männer, denen von der Arbeit am Grill der Kopf schon ganz rot angelaufen ist, laden ein, bei einem kühlen Bierchen ein, Okonomiyaki (eine Art herzhafter japanischer Pfannkuchen) zu probieren. Und das alles vor dem Hintergrund der malerischen, scheinbar endlosen Brücken des Seto-Binnenmeeres. Vor so einer Kulisse schmeckt das Sandwich aus dem Convenience Store bei einer Pause gleich viel besser.
Während man gemächlich auf dem Rad durch die Landschaft tuckert, entdeckt man hinter jeder Ecke kleinere und größere Sehenswürdigkeiten: Beim Verlassen der Innoshima-Brücke, der zweiten Brücke der Tour, wird man von einem weißen Dinosaurier, so hoch wie ein dreistöckiges Haus, begrüßt. Nach einem kurzen Ausflug zur Expo in Hiroshima wacht dieser seit 1989 über die Shimanami Kaidō und die rund 200.000 jährlichen Radler:innen.
Nach den obligatorischen Selfies mit Sauru-kun (der offizielle Spitzname des Dinos) lohnt es sich, den kurzen Anstieg Richtung Ōhamasaki-Campingplatz zu wagen. Denn dort wartet hinter ein paar Bäumen versteckt der verlassene Ōhamasaki-Leuchtturm, den man von der Innoshima-Brücke aus bereits sehen kann, sowie eine einsame Bucht, in der sich wunderbar die Füße abkühlen lassen.
Feierabendbier mit Ausblick
Nach rund 35 km Fahrt, zahlreichen Zwischenstopps für Fotos, Snacks und zum Fahrradsattel nachjustieren, ist das Ziel kurz vor Sonnenuntergang endlich zum Greifen nahe: das verschlafene Städtchen Setoda. Dessen Geschichte als einst wichtiger Handelshafen für Salz lässt sich nur noch erahnen, wenn man die Shiomachi-Einkaufsstraße (wörtlich: Salzstadt-Straße) herunterschlendert, wo man in den Souvenir-Geschäften eine bunte Variation an Salzen und natürlich Zitronen-Produkten finden kann.
Für rund 1600 Yen bringt die Fähre die erschöpften Radelnden und ihre treuen Drahtesel wieder gen Heimathafen in Onomichi, wo die Fahrräder beim Fahrradverleih abgegeben werden müssen. Zwar hätte es auch Verleihe gegeben, bei denen die Abgabe auch in einer Filiale in einer anderen Stadt möglich ist, aber das kostet Extragebühren und benötigt eine Voranmeldung.
Nach der getanen Arbeit und mit Blick auf die untergehende Sonne, die hinter der Bergkette der Insel Takaneshima verschwindet, schmeckt dann das kühle Fläschchen Zitronen-Bier aus Setoda noch leckerer. Und wenn man im Zug zurück nach Hiroshima sitzt, freut man sich doch etwas, die Landschaft wieder nur vom Fenster aus betrachten zu können.
Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der JAPANDIGEST April 2023-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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