Hiroshima, 8:30 Uhr: Im Hiroshima Bus Center steigen wir in einen Überlandbus in Richtung der Präfektur Shimane im Norden. Nach etwa einer Stunde erreichen wir die Haltestelle Ōasa Interchange nahe einer Autobahnmautstelle. Dort wartet bereits unser heutiger Guide Jonah mit seinem Auto. Nach ein paar Grußworten bedeutet uns der Japaner mit den freundlichen Augen einzusteigen. Unser eigentliches Ziel ist die Ōasa Mobility Station im Zentrum des Dorfes Ōasa, etwa 10 Minuten von der Bushaltestelle entfernt. Viel zu sehen gibt es während der Fahrt nicht. Wir rollen vorbei an Einfamilienhäusern und Feldern, im Hintergrund sind die bewaldeten Berge. Die Präfektur Hiroshima ist durchzogen von der Chūgoku-Gebirgskette, der höchste Gipfel ist über 1.300 m hoch. Es ist die typische Topografie Japans, in der der überwiegende Teil der Bevölkerung in den Küstenregionen lebt, während das Landesinnere (immerhin zu über 80 %) aus Gebirgen besteht und vergleichsweise spärlich bewohnt ist. Ōasa liegt in 300 bis 800 m Höhe, im Winter fällt hier besonders viel Schnee. Jetzt ist es Anfang November, doch zum Glück hat sich ein mildes, sonniges Wetter angekündigt.
Auf der Straße ist kaum jemand unterwegs, auch Spaziergänger sehe ich keine. An der Ōasa Mobility Station ist schon etwas mehr los: Sie steht an einem großen Parkplatz, den sie sich mit einem Supermarkt, einem rustikalen Bauernmarkt und einer Sozialeinrichtung teilt. Ein paar hundert Meter weiter liegt Ōasas einzige Grundschule, die insgesamt nur ein paar Dutzend Kinder besuchen. Insgesamt leben hier weniger als 2.500 Menschen.
Los geht’s! Die Ōasa Mobility Station
Wir steigen aus dem Auto und beobachten einige Einheimische – vor allem ältere –, die ihre morgendlichen Einkäufe erledigen. Ich sehe kaum ein Gebäude, das mehr als zwei Stockwerke hat, von Hochhäusern ganz zu schweigen. Um uns herum stehen Wohnhäuser, moderne wie solche, die vermutlich schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Selbst Verkehrsampeln gibt es nur an den größeren Kreuzungen. Die Mobility Station ist im Grunde eine große Holzhütte, in der sich öffentliche Toiletten und ein Sitzbereich befinden. Als wir hineingehen, hat es sich dort ein älteres Pärchen gemütlich gemacht, das auf den Bus wartet.
Jonah ist bereits voll motiviert und begrüßt seinen Kollegen, der gerade Fahrräder aus dem angrenzenden Schuppen holt. Dafür sind wir nach Ōasa gereist: Im Rahmen einer E-Bike-Tour wollen wir mehr diese ländliche Region erkunden. Jonah stellt sich vor eine große Tafel, die eine liebevoll handgezeichnete Karte von Ōasas Sehenswürdigkeiten und Radstrecken zeigt. Er hat viel Erfahrung als Tourguide, das erkennt man an seiner wunderbar humorvollen, lockeren Einführung auf Englisch. Wir fragen ihn, woher er die Sprache so gut spricht – keine Selbstverständlichkeit in Japan, schon gar nicht auf dem Land. „Mit 14 Jahren ging ich nach Florida und habe dort meinen High School-Abschluss gemacht“, erzählt der mittlerweile 50-Jährige, der gebürtig aus der Präfektur Tottori stammt. „Danach blieb ich in den USA zum Studieren.“ Diese Auslandserfahrung habe ihm die Augen für andere Kulturen eröffnet. Und sie ist auch der Grund, warum er überhaupt als Tour Guide arbeitet: Nicht nur möchte er Ōasa im Ausland bekannter machen – sondern auch das Ausland nach Ōasa bringen. So bekämen die Einheimischen (insbesondere die Kinder) die Gelegenheit, andere Länder und Kulturen kennenzulernen.
Erster Stopp: Ein herbstlicher Garten
Draußen stehen unsere E-Bikes und Helme schon bereit. Wir machen schnell ein Gruppenfoto vor einer Weltkarte, die an der Außenwand der Mobility Station angebracht wurde. Es ist eine Art Hall of Fame der internationalen Tourteilnehmer:innen. „Du bist die erste Teilnehmerin aus Deutschland“, meint Jonah lachend zu mir. Ich bin überrascht und auch etwas stolz. Vielleicht werde ich jetzt auch an der Wand verewigt.
Nach einer technischen Einführung geht es los. Das Dorfzentrum liegt schnell hinter uns und jetzt begleiten uns vor allem riesige Reisfelder. Viele Einheimische in Ōasa leben von der Landwirtschaft, vor allem vom Reisanbau, aber auch Gurken, Tomaten, Mais und anderes Gemüse werden kultiviert, früher sogar Hanf. Immer wieder fahren wir an Erntemaschinen, aufgetürmten Reissäcken, Gemüsebeeten und Lagerhallen vorbei. Unser erstes Ziel ist Hotokebara Yūen, ca. 2 km von der Ōasa Mobility Station entfernt: Es ist ein kleiner privater Park direkt an der Landstraße, in dem sich eine Statue der buddhistischen Gottheit Kannon befindet. Davor sprudelt aus einem kleinen Rohr kristallklares Trinkwasser, das direkt aus der Quelle hochgepumpt wird.
Obwohl es bereits November ist, sind so ziemlich alle Bäume in Hiroshima – wie in den meisten anderen Landesteilen – noch grün; zu warm war der Sommer. Doch im Hotokebara Yūen erstrahlen dutzende Bäume, vor allem aus der Familie des Ahorns, in herbstlichen Farbverläufen, von gelb zu feuerrot. „Noch ein oder zwei Wochen, dann wird die ganze Gegend so aussehen“, merkt Jonah an. Ich freue mich, überhaupt ein Bäumchen in Herbstgewand zu sehen und mache wie wild Fotos. Es waren auch die einzigen während meines gesamten Japantrips.
Höhenflug auf zwei Rädern
Die nächste Etappe führt uns schon zum ersten Höhepunkt der Tour, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir radeln in einen ruhigen Waldabschnitt, wo es schnell steil wird, während sich die Straße um den Berg Kakeyama windet. Ohne den Motor des E-Bikes wäre der Aufstieg bestimmt eine Tortur geworden. Ich bemühe mich auf der linken Straßenseite zu fahren – rechts schützt uns nämlich kein Geländer vor dem Abhang. Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir den Gipfel in 752 m Höhe, wo sich uns ein fantastisches Panorama auf das gesamte Tal eröffnet. Ōasa und die benachbarten Ortschaften verschwinden beinahe in der grün-braunen Farbpalette der umliegenden Natur.
Jonah reicht uns eine kleine Stärkung in Form eines Onigiri-Reisbällchen. Nach der anstrengenden Fahrt, und wissend, dass er mit Reis und Kräutern der Region zubereitet wurde, schmeckt er noch viel besser. Unser Guide deutet in verschiedene Richtungen, während er uns mehr über die Geschichte Ōasas erzählt, welches bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und 2005 mit anderen Ortschaften zur Gemeinde Kitahiroshima zusammengefügt wurde. Im Mittelalter war die Region eine lebendige Poststation, in der Feudalherren des Yoshikawa-Clans ihren Sitz hatten.
Wir haben gerade einmal die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht, jetzt geht es wieder bergab. „Fahrt bitte langsam und haltet die Bremsen die ganze Zeit gedrückt!“, mahnt Jonah. Die Straße ist noch nass vom Starkregen, der vor ein paar Tagen gewütet hat, und wir müssen besonders vorsichtig sein. Während der Rückfahrt fällt mir ein kleines Gebäude auf, an dem das goldene, sternenförmige Symbol der japanischen Polizei angebracht ist. Aber direkt dahinter steht ein normales Wohnhaus – sogar frisch gewaschene Wäsche hängt zum Trocknen draußen. „Richtig, das ist die örtliche Polizeistation“, erwidert Jonah, als ich ihn darauf anspreche. „Es gibt hier nur einen Polizisten. Die Station ist im vorderen Teil, im hinteren lebt er mit seiner Familie.“ So ist das eben auf dem Land.
Plötzlich fährt Jonah rechts ran und deutet auf einen Stapel langer Holzstangen, die neben einem Wohnhaus gelagert sind. Es handelt sich um sogenannte inagi, an die man Reispflanzen oder Gemüse aufhängt, um sie in der Sonne zu trocknen, erläutert er. Heutzutage wird diese Technik kaum noch angewandt, da sie zu arbeits- und zeitintensiv ist. In Dörfern wie Ōasa kann man solche alten Landwirtschaftsmethoden aber noch beobachten.
Lunch mit Wohlfühlambiente
Mittlerweile können wir das Mittagessen kaum erwarten. Wir biegen eine Einfahrt hoch, an dessen Ende sich ein paar Schuppen und ein einstöckiges Holzgebäude befinden. Überall stehen Gartenwerkzeug, Baumaterial und Anzuchtschalen, in denen allerlei Grünzeug wächst. Zwei angeleinte Hunde beobachten die Besucher mit neugierigen Blicken, außer uns ist niemand da. Wir sind im „Ai no Sato Herb Garden“ angekommen.
Als wir eintreten, strömt mir ein starker Duft entgegen. Der ganze Eingangsbereich steht von oben bis unten voll mit Trockenblumen, die in kunstvollen Sträußen, Kränzen oder Gedecken zusammengebunden sind. Im hinteren Teil des Raumes befindet sich die offene Küche sowie ein Verkaufstisch mit allerlei hausgemachten Leckereien wie Butterkekse, Marmelade, Tee und Kräutersalz. Auf knapp 40.000 m² werden in dieser Bio-Gartenanlage Kräuter, Blumen, Gemüse und mehr gepflanzt, ohne Chemie und Pestizide. Betrieben wird sie von der Familie Yamane, die vor über 20 Jahren aus Hiroshima hierherzog, um sich voll dem Landleben zu widmen. Dazu gehört ein kleines Restaurant mit gemütlicher Wohnzimmer-Atmosphäre, das hausgemachte Menüs voller regionaler Zutaten – die meisten aus eigenem Anbau – anbietet.
Ich entscheide mich für das beliebte „Herb Lunch“ – und bekomme einen unerwartet farbenfrohen Teller: ein frittiertes Schweineschnitzel mit passender Sauce, ein Salat garniert mit essbaren Blumen, ein kleiner Kartoffelsalat, ein Tortilla-Omelett nach spanischer Art und eine Pione, eine japanische Traubenart. Doch der Star des Menüs ist das Tempura aus frisch frittierten Zucchini, Süßkartoffel und Basilikum in einer dünnen, knusprigen Panade. Dazu gibt es eine Portion Reis und frisch aufgebrühten Kamillentee, natürlich mit aus dem Garten gepflückten Blüten. Über den Preis von 1.250 Yen (ca. 8 Euro) kann man wirklich nicht meckern.
Finale in der Kultur-Brauerei
Die Anstrengungen der letzten Stunden sind angesichts dieser schmackhaften Hausmannskost wie vergessen. Gesättigt steigen wir auf unsere E-Bikes und radeln zurück ins Dorfzentrum. Auf einem Parkplatz stellen wir die Fahrräder ab. Ich will mir gerade den Helm unter den Arm klemmen, als Jonah sagt, ich solle ihn einfach am Lenker hängen lassen. Abgeschlossen werden die Bikes auch nicht. Ich schaue ihn unsicher an. „Keine Sorge, hier klaut niemand“, versichert er mir lachend.
Dann betreten wir die Fukumitsu Sake-Brauerei – und noch während ich mich darüber wundere, warum hier ein Piano steht, begrüßt uns schon Inhaber Fukumitsu Hiroyasu, der uns durch die interessante Geschichte seines Betriebs begleitet: 1933 wurde die Brauerei von Fukumitsus Urgroßvater gegründet, doch 2006 musste sie aufgrund der Krankheit des damaligen Inhabers schließen. Fukumitsu selbst verbrachte den Großteil seines Lebens in der benachbarten Präfektur Yamaguchi, wo er das Sake-Handwerk lernte. Erst 2015 kehrte er zurück, um den Betrieb zu übernehmen. Mithilfe der Einheimischen renovierte er die Brauerei bis zur Wiedereröffnung vier Jahre später.
Fukumitsu führt uns in einen Nebenraum. An der Wand ist eine große Leinwand angebracht, von der Decke hängt ein Projektor. „Hier veranstalten wir Spiele-, Film- oder Musikabende mit DJ oder Live-Musik“, erzählt uns der 53-Jährige. Uns wird klar, dass dieser Ort nicht nur eine einfache Sake-Brauerei sein soll – sondern gleichzeitig eine kulturelle Begegnungsstätte, der den Einheimischen die Möglichkeit bietet, sich zu vergnügen und auszutauschen. Auf dem Piano im Eingangsbereich darf jeder spielen, der möchte – es wird aber auch für intime Konzerte genutzt.
Durch eine Schiebetour gelangen wir in den hinteren Teil der Brauerei, wo Sake und Rotwein hergestellt werden. Bis auf ein paar Tanks und sauber verstautes Brauwerkzeug gibt es nicht viel zu sehen. Erst in ein paar Monaten, wenn Trauben und Reis erntereif sind, wird Fukumitsus Arbeit richtig losgehen. Die Betonung liegt hier auf „Fukumitsus“ – denn er ist nicht nur Inhaber und Präsident der Brauerei, sondern auch ihr einziger Angestellter. Entsprechend übernimmt er sämtliche Produktionsschritte selbst, vom Waschen des Reises, über das Stampfen der Weintrauben bis hin zur Abfüllung.
Mit der Weinherstellung hat Fukumitsu als Hobby begonnen – sein Hauptgeschäft ist Doburoku-Sake. Dabei handelt es sich um einen traditionellen japanischen Alkohol, der (anders als klassischer Sake) nicht gefiltert wird. Das verleiht ihm eine trübe, milchig-weiße Erscheinung mit sichtbaren Stückchen. Den Geschmack kann ich nur schwer beschreiben: trocken, leicht süß, aber säuerlich und von der Konsistenz her ein wenig wie sehr flüssiger Joghurt. Sake-Connoisseure werden sicherlich verzückter sein als ich, aber er schmeckt mir dennoch irgendwie.
Engagement gegen das Vergessen
Wir verabschieden uns von Fukumitsu und kehren zu unseren Fahrrädern zurück, die natürlich genau da stehen, wo wir sie gelassen haben. Von dort sind es nur ein paar hundert Meter zur Ōasa Mobility Station. Am Ende waren wir mehr als fünf Stunden unterwegs, aber die Zeit verging wie im Flug. Jonah resümiert die heutigen Erlebnisse und hofft, dass wir Neues dazulernen konnten. Sein Fokus lag besonders darauf, uns die Bemühungen der Einheimischen, die Region lebenswerter zu machen, zu zeigen. Zum Abschied richtet er selbstbewusst folgende Worte an uns: „Wir haben Ōasa nicht vergessen – also bitte vergesst uns auch nicht!“
Es ist ein Satz, über den ich bis heute nachdenke. Ōasa ist wie so viele japanische Regionen geprägt von Landflucht und einer überalternden Bevölkerung; die Jungen zieht es in die Städte für Bildung und Arbeit, was zur Folge hat, dass immer mehr Wohnhäuser leer stehen und öffentliche Einrichtungen schließen müssen. So sterben im ganzen Land Orte, und mit ihnen Bräuche und Traditionen, langsam aus. Doch Ōasa ist auch ein Beispiel dafür, wie sich die Einheimischen dagegen wehren: Kulturveranstaltungen, Workshops und Outdooraktivitäten – die dank englischsprachiger Guides auch für ausländische Gäste zugänglich gemacht werden – sind nur der Anfang einer Reihe von Angeboten, um den Ort zu revitalisieren. Ein Foodtruck mit regionalen Zutaten, ein Campingplatz und neue Unterkünfte sind ebenfalls in Planung. Im Nachbarort Chiyoda werden Erlebnistouren angeboten, die die örtliche Jahrhunderte alte Kunst des Schwertschmiedens vorstellen. Auch Sake-Brauer Fukumitsu nimmt sein Engagement persönlich. Seine Tochter ist noch in der Grundschule, aber: „Es ist ihre Entscheidung, ob sie eines Tages die Brauerei übernehmen möchte oder nicht. Nur wenn es in Ōasa nichts mehr gibt, welchen Grund hätte sie dann überhaupt erst? Um das zu verhindern, gebe ich mein Bestes, damit Ōasa am Leben bleibt.“
Wer eine völlige neue Seite Hiroshimas und das authentische japanische Landleben erfahren möchte – der sollte die E-Bike-Tour durch Ōasa ganz oben auf die Bucketlist setzen.
Tour-Informationen
- Dauer der E-Bike-Tour: ca. 4 Stunden, inkl. Mittagessen (ohne Anfahrt)
- Kosten: 10.000 Yen pro Person (zzgl. Mittagessen und Busfahrt von/nach Ōasa); 20.000 Yen bei einzelnem Teilnehmenden
- Sprache: Englisch oder Japanisch
- Wetter: Die Tour findet auch bei leichtem Regen statt
- Buchung: Online möglich via Viator oder Tripadvisor
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