Eigentlich sollten meine Schwester und ich an jenem Tag vom Flughafen Narita nach Okinawa fliegen, wo die dritte Schwester im Bunde bereits auf uns wartete. Doch der Flug wurde in letzter Minute abgesagt. Wir waren also an einem langen, heißen Augusttag in Asakusa gestrandet, statt auf Okinawa Füße und Seele baumeln zu lassen. Doch nicht nur wegen Hitze und Hektik bleibt mir der Tag bis heute gut im Gedächtnis: Es war der Tag, an dem ich das erste Mal zum Kanji House ging.
Zufallsbegegnung mit dem Kanji House
Der Hunger katapultierte uns aus dem gekühlten Hotelzimmer auf die wuselnden Straßen Asakusas. “Habt ihr euch verlaufen? Können wir euch helfen?”, sprachen uns zwei freundlich lächelnde Gesichter an. Ein junger Mann und eine junge Frau, beide in Yukata gekleidet. Wahrscheinlich Studenten. Wir wunderten uns darüber, ob wir tatsächlich so verloren wirkten.
“Verlaufen nicht, aber wir sind auf der Suche nach einem EC-Automaten, der auch mit internationalen Karten funktioniert.” Ohne zu zögern erklärten die beiden uns den Weg zum nächsten 7-Eleven. “Und wenn ihr danach noch Zeit habt, kommt doch mal im Kanji House vorbei”, fügten sie ganz nonchalant hinzu. Mit Flyern in der Hand machten wir uns also auf den Weg zum Konbini.
Weder meine Schwester noch ich fühlten uns – erschöpft und bereits in nicht allzu schicker Reisekleidung – besonders gesellig oder neugierig auf das Kanji House. Völlig untypisch für uns beide, entschieden wir uns, trotzdem vorbeizuschauen. Die beiden, die uns auf der Straße angesprochen hatten, schienen einen Eindruck hinterlassen zu haben.
Als wir das Kanji House etwa eine Stunde später verließen, lächelten wir uns wissend an. Noch ganz in die Erfahrung versunken, begaben wir uns zunächst schweigend auf den Rückweg zum Hotel. Ich spürte den Blick meiner Schwester. Wir sahen uns an und plötzlich sprudelte es aus uns beiden heraus: “Ich bin sooo froh, dass wir da hingegangen sind.”, “Das war so toll, wie gut, dass unser Flug abgesagt wurde!”, “Okinawa ist schön, aber ich bin echt glücklich, dass wir das erleben konnten!”. Wir fühlten uns mehr als gut entschädigt für einen verlorenen Strand-Tag!
Das Kanji House – Individualisierte Japan-Erfahrung
Bei diesem ersten Besuch im Kanji House hatte es gerade ein paar Wochen geöffnet. Über eine schmale Treppe stiegen wir in den ersten Stock des Hauses hinauf, wo ein Tatami-Zimmer auf uns wartete. Aus der erdrückenden Hitze hinein ins gekühlte Zimmer – es machte uns nichts aus, dass die Einrichtung an manchen Stellen noch provisorisch schien.
Wir nahmen auf Sitzkissen um einen runden Tisch platz, wo Rena, unsere Gastgeberin, Block und Stift zückte. “Erzählt mir etwas über euch”, bat sie uns. Ich versuchte das Wesen meiner Schwester zu erklären und anders herum. Rena notierte alle Informationen aufs Genaueste und versank schließlich in einem Kanji-Wörterbuch.
Neugierig blickten wir uns im Raum um: Japanische Dekorationen, eine Samurairüstung, Fächer in einem Regal. Für meine Schwester muss dies der Moment gewesen sein, an dem ihr klar wurde: “Ja, ich bin in Japan.”
“Sina, ich habe deine Kanji ausgewählt”, rief Rena meine Aufmerksamkeit zurück. “Die Silbe Si ist etwas schwer, sie existiert im Japanischen nicht.” (Das war mir nichts Neues, seit Monaten war ich an meiner Austausch-Uni Schina und Gina gerufen worden!)
“Aber ich glaube, dieses Kanji passt trotzdem gut zu dir. Es wird shi oder ji gelesen und bedeutet säen. Ich habe es aus zwei Gründen ausgewählt: Weil es dir Spaß macht, unter anderen Leuten dein Wissen zu verstreuen. Und außerdem, weil es dir viel bedeutet, die um dich glücklich zu machen und Liebe in ihren Herzen zu säen.” (Ok, ob sie es wirklich so pathetisch gesagt hat, weiß ich nicht mehr, aber so hat sich die Erklärung bei mir eingeprägt.)
Auch meiner Schwester erklärte sie ihren Namen, und wir fühlten uns untereinander und mit Rena sehr verbunden. Es war eine einzigartige Erfahrung, durch die Namensgebung die eigene Identität neu zu verstehen. Wir waren tief berührt. Die Erfahrung wurde dingfest gemacht, als eine anwesende Kalligraphistin, die sich zuvor eher im Hintergrund aufhielt, unsere Namen auf japanischem Papier verewigte.
Mit Namens-Zertifikaten ausgestattet und die Kalligraphie in Furoshiki geschützt unter dem Arm tragend, verabschiedeten wir uns von Rena und den anderen Angestellten des Kanji House. Mit einem Gefühl der Freundschaft und Verbundenheit, das ich beim Schreiben dieses Texts noch genauso stark empfinde wie an jenem Tag, entließ uns das Kanji House zurück auf die Straßen Asakusas.
Umfangreiches Angebot, bleibender Eindruck
Während meinem Japan-Aufenthalt war ich insgesamt vier Mal im Kanji House, mit sämtlichen Familienangehörigen und Freunden, die mich in Japan besuchten. Jedes Mal war das Angebot etwas erweitert worden, habe ich neue Angestellte kennengelernt. Die meisten von ihnen Studenten, die eine authentische Japan-Erfahrung teilen und mehr über ihre Gäste erfahren wollen. Wo sie herkommen, warum sie in Japan sind. Die sich freuen, wenn sie Gemeinsamkeiten mit ihren internationalen Besuchern entdecken.
Kanji, Kalligraphie & Origami in Japan erleben
Seit meinem letzten Besuch im Januar 2016 hat sich das Angebot stark erweitert: Neben der Kanji-Erfahrung, Origami und Kalligraphie, die ich selbst mitgemacht habe, bietet das Kanji House inzwischen auch Führungen durch Asakusa, Teezeremonie und Kimono-Erfahrungen an.
Inzwischen, so erzählt mir Rena, hat das Kanji House auch immer mehr Angestellte. Und einen kotatsu, einen Tisch mit beheiztem Decken-Überwurf, hat sich das Kanji House auch zugelegt, unter dem es sich Gäste und Gastgeber bei kaltem Wetter gemütlich machen. Ein guter Grund für mich, meine nächste Japanreise für den Winter zu planen und wieder einmal das Kanji House zu besuchen.
Hier finden Sie das Kanji House in Asakusa: 2F 1-8-10 Hanakawado, Taito-ku, Tokyo. Es liegt etwa fünf bis zehn Gehminuten vom Bahnhof Asakusa (Metro Ginza-Linie oder Asakusa-Linie) entfernt.
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