Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Japans verlassene Orte: Interview mit Urbexer Florian Seidel

Kerstin Coopmann
Kerstin Coopmann

Für seinen Blog „Abandoned Kansai“ reist Florian Seidel, der seit 2009 in Japan lebt und arbeitet, regelmäßig zu verlassenen Orten. Im Interview mit JAPANDIGEST berichtet er von seinen Erfahrungen und gibt zukünftigen Urbexern Tipps für Erkundungstouren in Japan.

Mt. Atago Cable Car
Die Mount Atago Cable Car bei Kyoto wurde 1944 als kriegsunwichtige Linie geschlossen. © Florian Seidel / Abandoned Kansai

Florian Seidel lebt und arbeitet in Ōsaka. Seit 2010 betreibt er seinen Blog „Abandoned Kansai“, auf dem er seine Urban Exploring-Ausflüge anhand von Fotos und Texten dokumentiert. Ausgehend von der Region Kansai, besucht er verlassene Orte in allen Gegenden Japans.

Du hast 2009 mit Urbex in der Region Kansai angefangen. Wie bist du dazu gekommen?

Ich fand Altes und/oder Verlassenes schon immer interessant: die gesprengte Schießanlage im Wald als Kind, das auf Grund gelaufene Schiff im Gardasee als Jugendlicher, die Zeche Zollverein als Veranstaltungsort für Uni-Seminare als Student. Durch das Internet habe ich vor etwa 15 Jahren erfahren, dass Leute gezielt verlassene Orte aufsuchen, um sie zu dokumentieren, bevor sie abgerissen werden – so wurde mein passives Interesse an Urbex geweckt.

Wenig später bin ich nach Japan gezogen. Als ich kurz nach verlassenen Orten gesucht habe, konnte ich aber keine finden. 2009 habe ich einen erneuten Versuch gewagt und bin auf die Mount Atago Cable Car sowie das Doggy Land gestoßen – der Einstieg war geschafft.

Im Japanischen gibt es den Begriff haikyo, der Ruine bedeutet und auch für Urbex verwendet wird. Sind Japaner mit dieser Bedeutung vertraut? Ist Urbex beliebt in Japan?

Dem Durchschnittsjapaner ist der Begriff haikyo vermutlich ähnlich vertraut wie dem Durchschnittsdeutschen der Begriff Lost Place oder dem Durchschnittsamerikaner der Begriff urban exploration – also eher nicht, da es der jeweils lokale Fachbegriff für ein Untergrundhobby ist, auch wenn diverse Massenmedien gerne mal Fotostrecken veröffentlichen. Leute, die sich mit der Materie beschäftigen, kennen diese Begriffe natürlich, aber urbex/haikyo/lost places ist kein Hobby der breiten Masse – was auch gut so ist, denn je mehr Leute es aktiv betreiben, desto schneller werden die entsprechenden Orte totgetrampelt.

Sauna im Nishiwaki Health Land
Das Nishiwaki Health Land beeindruckte mit einem großen Sauna- und Badebereich. © Florian Seidel / Abandoned Kansai

Ausgehend von Kansai (daher der Blogtitel) hast du auch andere Regionen Japans besucht. Welche fehlen dir noch? Hast du auch Traumziele außerhalb Japans?

Ja, ursprünglich war der Blog nur als Ergänzung zu den zwei, drei anderen Ausländern gedacht, die von Chūbu und Kantō aus gelegentlich von verlassenen Orten auf Englisch berichtet haben. Aber bereits nach kurzer Zeit war ich von dem Hobby so fasziniert, dass ich angefangen habe, deswegen ganz Japan zu bereisen. Regionen fehlen mir keine mehr, 2017 habe ich sogar alle acht (oder neun, wenn man Okinawa nicht zu Kyūshū zählt) in einem Jahr abgedeckt. Inzwischen bin ich mit Ausnahme von Ehime in allen Präfekturen gewesen und habe mit Ausnahme von Tōkyō, Kanazawa und Ehime in allen Präfekturen Japans verlassene Orte erkundet.

Traumziele außerhalb Japans habe ich keine, ich konzentriere mich lieber auf die unzähligen Orte innerhalb Japans. Wobei ich fairerweise sagen muss, dass ich bereits in Pripyat/Chernobyl (2010) und Nordkorea (zweimal im Jahr 2013) gewesen bin und darüber auch lange Artikelserien veröffentlicht habe.

Wie entscheidest du, welche Orte du besuchst? Wieviel weißt du im Voraus über diese?

Bei der Auswahl der Orte spielen viele Faktoren eine Rolle: Gruppengröße und -zusammensetzung, Mobilität (Auto oder öffentliche Verkehrsmittel?), Entfernung, Wetter, Jahreszeit, Art des Ortes (meine Favoriten sind verlassene Krankenhäuser und verlassene Freizeitparks), andere Orte in der Nähe, Zugänglichkeit – und viele Faktoren beeinflussen einander natürlich.

Normalerweise weiß ich recht wenig über einen verlassenen Ort, in erster Linie aus Gründen der Zeitersparnis. Gut ein Drittel der Orte ist bei meiner Ankunft bereits abgerissen – oder verschlossen, hat Security, ist doch nicht verlassen oder ist aus welchen Gründen auch immer nicht zugänglich. Deshalb recherchiere ich vor der Erkundung potentiell verlassene Orte – und nach der Erkundung die Geschichte der jeweiligen Orte für die Blog-Artikel. Außerdem möchte ich auch nicht zu viel von einem Ort im Vorfeld gesehen haben, um ihn frisch und aus meiner Perspektive dokumentieren zu können. Zu viele Urbexer hetzen von Ort zu Ort und machen dann die gleichen Bilder wie Dutzende andere Leute vor ihnen…

Rutsche im Izu Water Park.
Der Izu Water Park war ein mittelgroßes Spaßbad auf der Izu-Halbinsel, einem Naherholungsgebiet für gestresste Tokyoter. © Florian Seidel / Abandoned Kansai

Welche Orte haben sich dir besonders eingeprägt?

Meine erste „richtige“ Erkundung war die Mount Atago Cable Car, eine 1944 verlassene und demontierte Standseilbahn – man brauchte das Metall für den Krieg… Die Talstation war bereits abgerissen, aber die eigentliche Strecke aus Beton mit sechs Tunneln und mehreren Brücken war noch vorhanden, ebenso die Bergstation. Leider waren zu diesem Zeitpunkt bereits zwei der Tunnel eingestürzt, d.h. ich musste von der Strecke runter, einen steilen Hang raufklettern und dann wieder zur Strecke zurückfinden. Beim ersten Tunnel ist mir das noch gelungen, nach dem zweiten stand ich im wahrsten Sinne des Wortes im Wald. Nach einiger Zeit habe ich die Erkundung abgebrochen. Zuhause habe ich dann recherchiert, wie es nach dem zweiten Tunnel weitergeht – und eine Woche später habe ich erneut die etwa 600 Höhenmeter überwunden, diesmal erfolgreich bis zur Bergstation.

Ein Ort, der sich mir besonders eingeprägt hat, ist der verlassene Freizeitpark Nara Dreamland. Diese schon zu aktiven Zeiten legendäre Disneyland-Kopie wurde im Jahr 2006 geschlossen ohne etwas zu verkaufen oder abzureißen, alles blieb stehen und überwucherte langsam. Die Achterbahnen, die Karusselle, das Erlebnisbad, die Einschienenbahn… alles. Im Jahr 2009 war ich einer der ersten Urbexer vor Ort, insgesamt habe ich das Nara Dreamland mehr als ein Dutzend Mal besucht, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Kaum jemand dürfte diesen wirklich besonderen Ort ausgiebiger dokumentiert haben als ich.

Wie hat Urbex dein Bild von Japan beeinflusst?

Durch Urbex inspiriert, habe ich mehr von Japan gesehen als die meisten Japaner. Besonders beeindruckt haben mich die Freundlichkeit, die Hilfsbereitschaft und die Neugierde der Menschen in den ländlichen Gebieten.

Andererseits hat es mir gezeigt, dass Japan großartige PR betreibt, tatsächlich aber oft mehr Schein als Sein ist. Da wird einerseits bejubelt, wenn irgendein Garten in Kyōto einen Ast stützt statt ihn zu stutzen, andererseits werden die unzähligen wilden Deponien komplett ignoriert. Im Sommer werden Klimaanlagen wegen des Stromverbrauchs verteufelt; im Winter wird jedoch geheizt, was die Steckdose hergibt, um sich nach dem Besuch einer Illumination (!) aufzuwärmen.

Die Sporthalle der Haboro Schule.
Die Schulsporthalle des ehemaligen Bergbaustädtchens Haboro gehört zu den meistfotografierten verlassenen Orten Japans. © Florian Seidel / Abandoned Kansai

Worin liegt die größte Herausforderung beim Urbex in Japan? Wie unterscheidet es sich von anderen Ländern, in denen du  aktiv warst?

Die größte Herausforderung ist es, interessante Orte zu finden – wie eigentlich beim Urbexen in jedem Land. Jeder Tourist kann zu verlassenen Orten schlappen, die so bekannt sind, dass jemand sie auf GoogleMaps eingetragen hat. Urbexer, die was auf sich halten, recherchieren selbst – und finden nicht nur die Orte, die sie im Internet gesehen haben, sondern machen auch eigene Funde.

In westlichen Ländern sind verlassene Orte relativ häufig von Obdachlosen, Drogensüchtigen oder Jugendgangs in Beschlag genommen; gelegentlich hört man von Urbexern, die so ihre Fotoausrüstung losgeworden oder gar angegriffen worden sind. Das ist in Japan nicht der Fall. Ein halbes Dutzend Mal habe ich Spuren von früheren „Zwischenbewohnern“ gefunden, nur ein einziges Mal habe ich einen Hausbesetzer in einem verlassenen Onsen Hotel gehört – er hat eine Tür von Innen zugehalten und irgendwas gerufen, also bin ich wieder gegangen.

Welchen Ort empfiehlst du Urbex-Anfängern oder Neugierigen in Japan?

Für Anfänger habe ich zwei Empfehlungen: Die als „Haseninsel“ bekannt gewordene Giftgasinsel Okunoshima nahe Hiroshima sowie die „Schlachtschiffinsel“ Hashima in der Nähe von Nagasaki.

Auf Okunoshima wurde im 2. Weltkrieg streng geheim Giftgas für den Einsatz in China produziert – einige Gebäude sind erhalten geblieben und laden zusammen mit Hunderten wildlebenden und sehr zahmen Hasen (angeblich Nachfahren von Versuchstieren aus den 30er und 40er Jahren) zum Rundgang über die Insel ein.

Hashima ist eine Zecheninsel, über die unterseeisch Kohle abgebaut wurde. Sie galt 1959 als einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt und wurde 1974, noch im Besitz von Mitsubishi, komplett geschlossen und binnen weniger Tage verlassen. Inzwischen gehört die Insel der Stadt Nagasaki und ist über diverse Bootstouren erreichbar.

Verrätst du uns, wohin deine nächste Reise geht?

Für Anfang Mai habe ich ein paar Tage Hokkaidō geplant – zurück ins wunderschöne, aber inzwischen leider völlig überlaufene Noboribetsu Onsen… und natürlich, um ein paar weitere verlassene Orte zu dokumentieren.


Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der April 2019-Ausgabe des JAPANDIGEST  und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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