Es ist 4:45 Uhr, mein Wecker klingelt. Zunächst bin ich wie in Trance, doch dann fällt mir ein, warum ich ihn so früh gestellt hatte, und krieche aus meinem warmen Futon. Ich bin in einem einfach eingerichteten, aber geräumigen japanischen Zimmer mit Tatami-Matten. Ich schiebe die Tür auf und gehe in den halbdunklen Flur. In einer Ecke befindet sich ein langes Waschbecken aus Metall für fünf Personen. Ich wasche mir das Gesicht, putze mir die Zähne und ordne meine Haare. Dann gehe ich zurück in mein Zimmer, lege meinen Baumwoll-Schlafkimono ab und ziehe mich an, um gleich danach nach draußen zu gehen. Die Morgenluft ist kalt und es ist noch stockdunkel, als ich mitten auf dem Tempelgelände des Iwamoto-ji stehe.
Ein aufrichtiges Willkommen
Ich gehe in Richtung Haupthalle, die ich leise betrete. Dort sitzen bereits einige der anderen Gäste, mit denen ich am Vortag beim Abendessen geplaudert hatte. Ganz vorne im Raum steht einer der Priester dieses Tempels. Er hat ein freundliches Gesicht und trägt eine Brille. Nachdem ich mich gesetzt habe, kommt er auf mich zu und gibt mir zwei Blätter mit Sutren, die wir gleich gemeinsam singen würden. Hierfür bin ich so früh aufgestanden: das Morgengebet nach meiner Übernachtung im Tempel. Der Priester beginnt die Zeremonie mit einem Schlag auf die große Taiko-Trommel, deren dunkler Klang eine geradezu feierliche Stimmung erzeugt.
Auf den Spuren der Mönche und Pilgernden
Shikoku, die kleinste der vier Hauptinseln Japans, ist über zwei Brücken mit der größten Insel Honshū verbunden. Hier fährt kein Shinkansen, weshalb die Wege durch die vielen ländlichen Regionen lang sind. Besonders berühmt ist Shikoku für den 1.200 km langen, jahrhundertealten Pilgerweg der 88 Tempel (Shikoku henro oder Shikoku 88-ka-sho). Um den Pilgernden eine Unterkunft zu bieten, haben früher fast alle Tempel Übernachtungsmöglichkeiten angeboten. Mittlerweile sind es nur noch eine Handvoll – einer davon ist der Iwamoto-ji, gelegen in Shimanto im Südwesten der Präfektur Kōchi, und der 37. Tempel des Shikoku-Pilgerweges. Zur dortigen Tempelübernachtung gehört die entspannte Ankunft am frühen Nachmittag, das Verweilen auf dem Tempelgelände und, wenn gewünscht, auch ein Gebet. Die schlichten Zimmer sind auf mehrere Personen ausgelegt, die nebeneinander auf Futons schlafen, es gibt aber auch Einzelzimmer.
Gemüseküche
Das üppige Abendessen wird von den Mönchen nach den Regeln des shōjin ryōri gekocht, der traditionellen buddhistischen Küche. Sie bedient sich vornehmlich saisonalen und lokalen Gemüsesorten aus dem Tempelgarten, zusammen mit etwas Fisch, aber ohne Fleisch. Typisch für die japanische Küche wird die Mahlzeit auf vielen kleinen Tellern und Schüsseln angerichtet. Ganz nach dem Motto „Das Auge isst mit“ sind die einzeln gekochten Speisen farbenprächtig und formvollendet.
In den Speisesälen vieler Tempel befindet sich ein buddhistischer Altar. Im Iwamoto-ji hängt an dieser Stelle eine Bildrolle des Mönches Kūkai, der im 8. und 9. Jahrhundert wirkte und den Shingon-Buddhismus begründete. Im kleinen Tempelgeschäft kann man nach dem Abendessen Glücksbringer und lokal produziertes Kunsthandwerk kaufen.
Ein bewegendes Morgengebet
Wir tönen gemeinsam das hannya shingyō, das sogenannte Herz-Sutra, eines der populärsten Sutren im japanischen Buddhismus. Es folgt ein zweites Sutra, das ich zum ersten Mal höre. Doch durch den rhythmischen Gesang der einzelnen Silben, die der Priester vorgibt, kann ich ihm gut folgen. Die tiefen, monotonen Klänge unserer Stimmen verschmelzen mit den Trommelschlägen der Taiko und dem Klingen der Klangschale. Es herrscht eine einzigartige Atmosphäre, die kaum zu beschreiben ist. Im Anschluss hält der Priester mit dem freundlichen Gesicht eine Predigt über die Liebe in der Welt und darüber, in dem Bewusstsein zu leben, irgendwann Abschied nehmen zu müssen. Seine Wortwahl ist wunderschön und rührt mich zu Tränen.
Ich gehe in den Frühstücksraum. Dort sprechen mich Gäste aus Frankreich an, weil sie meine Rührung beim Morgengebet bemerkt hatten, und fragen mich nach dem Inhalt der Predigt. Ich übersetze so gut ich kann und genieße dann mit leichtem, warmem Herzen das farbenfrohe Frühstück der Saison.
Eine Reise wert
Das Verweilen auf dem Tempelgelände, die Interaktion mit den anderen Gästen, das leckere Essen und das wundervolle Morgengebet – für mich war all dies eine Erfahrung, die ich auf keinen Fall missen möchte. Wer auf der Suche nach Entschleunigung, innerer Einkehr oder auch nur nach neuen Bekanntschaften ist, findet sie vielleicht bei diesem außergewöhnlichen Japan-Erlebnis.
Mehr Informationen zum Iwamoto-ji gibt es auf dem offiziellen Tourismusportal der Präfektur Kōchi: https://visitkochijapan.com/en/see-and-do/10485
Dieser Artikel erschien in gekürzter Fassung in der JAPANDIGEST Mai 2024-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
Kommentare