Im Herzen von Tōhoku, dem nördlichen Teil von Japan, liegt die Stadt Tōno, von der sich die Einheimischen einst seltsame Geschichten erzählten. Diese Geschichten klingen wie Grimms Märchen entsprungen, sollen sich aber vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich zugetragen haben.
Wie bei den Brüdern Grimm, wird das Alltagsleben der Menschen in den Wäldern und Bergen um Tōno geschildert. Man hört von Jägern, Holzfällern und Köhlern, auch von Bauern und ihren Familien, und von den Begegnungen dieser Menschen mit übernatürlichen Wesen, Geistern, Dämonen und Göttern. Diese Legenden haben Tōno in ganz Japan berühmt gemacht, aber nur wenige Deutsche haben bisher davon gehört.
Literarisch verewigt
Ein einheimischer gebildeter Bauer namens Sasaki Kizen war mit diesen Legenden sehr vertraut. Er hat sie wohl von seinen Vorfahren gehört, von deren Erlebnissen sogar einige der Legenden handeln. Er war es, der sie Yanagita Kunio, dem Begründer der japanischen Volkskunde, anvertraute. Yanagita hat über 119 dieser Geschichten von Tōno notiert und sie im Jahr 1910 als Tōno Monogatari veröffentlicht.
Die Einleitung und die ersten Legenden im Tōno Monogatari beschreiben die Umgebung von Tōno und einige geschichtlichen Hintergründe. Yanagita, der die Region selbst besucht hatte, schilderte darin seine Eindrücke und setzte damit die Legenden eindrucksvoll in Szene.
Die Entstehungssage von Tōno
Tōno liegt im Becken eines ausgetrockneten prähistorischen Sees in der Mitte der Kitakami-Bergkette in der Präfektur Iwate. Der Name Tōno kommt wohl aus der Sprache des indigenen Volkes Japans, den Ainu, in der tō “See” bedeutet. Yanagita schildert auch die Ur-Legende von Tōno, so wie er sie von Sasaki gehört hat. Sie berichtet von einer Göttin, die ihren drei Töchtern jeweils einen der drei mächtigsten Berge um Tōno geschenkt habe. Der Berg Hayachine (1.917 m) liegt im Norden Tōnos, der Berg Rokkōshi (1.294 m) im Osten und der Berg Ishigami (1.038 m) im Westen.
Viele der jüngeren Legenden spielen sich auf den Kreuzwegen und in den Tälern und Schluchten dieser Berge ab. Dies sei angeblich die Entstehungslegende von Tōno, doch inzwischen ist belegt, dass das Gebiet bereits während der Jōmon-Periode (ca. 30.000 – 300 n. Chr.) bewohnt war.
Im Edo-Hinterland
Seit Beginn der Edo-Zeit im 17. Jahrhundert hat der Nanbu-Clan über Tōno geherrscht, der seinen Hauptsitz in der Stadt Morioka (heutige Präfekturhauptstadt Iwates) hatte und über 700 Jahre lang die Kontrolle der fast gesamten Tōhoku-Region innehatte. Tōno war am Ende des 19. Jahrhunderts eine Gegend mit einer Handvoll kleiner Bauerndörfer und einer kleinen Stadt mit einer Vasallenburg des Nanbu-Clans, einem Wochen- und einem Pferdemarkt am Oberlauf vom Saru-ga-ishi-Fluss.
Tōno von damals war von dunklen Wäldern und unzugänglichen Bergen umgeben und durch reißende Bergströme, tiefe Schluchten und Sümpfe in den Flussniederungen von der Außenwelt fast gänzlich abgeschnitten. Es gab auch einige Bergwerke um Tōno, wo die Bergleute ein hartes und gefährliches Leben geführt haben müssen. Sie lebten abgeschieden und hatten wohl ein ungepflegtes Aussehen. Es wurde vermutet, dass so mancher gesichteter Berggeist oder Dämon wohl eher ein Bergmann gewesen sein soll.
Ikonische Häuser
Die Bauern lebten zusammen mit ihren Tieren, vor allem Pferden, in sog. magari-ya, Reetdach-Häusern in einer L-Form. Im Tōno-Freiluftmuseum kann man diese traditionellen magari-ya aus nächster Nähe betrachten und sogar von innen erkunden. Die Häuser hier sind einige hundert Jahre alt und vermitteln dennoch den Eindruck, als würden die Bewohner jeden Moment nach Hause kommen.
Viele der Geschichten im Tōno Monogatari erzählen von merkwürdigen Begebenheiten in diesen Häusern, die an Geistergeschichten erinnern. Eine davon erzählt von zashiki-warashi, Geistern in Kindergestalt (warashi), die in alten Häusern mit Tatami-Fußboden (zashiki) wohnen sollen. Die traditionellen Häuser dieser choya (reiche Bauern) wären bestimmt heute noch auf dem Immobilienmarkt viel wert.
Nanbu-Pferde
Tōno ist bekannt für Pferdezucht und für die sog. Nanbu-Pferde, die als Pack- und Arbeitspferde auf dem Acker und im Wald eingesetzt wurden. Tōno war eine Zwischenstation zwischen dem Inland und der Küste – das Führen von Packpferden sowie der Pferdehandel waren also eine wichtige Einkommensquelle für die lokalen Bauern. Pferdeführer unterwegs auf Bergpässen kommen daher auch in vielen der Legenden vor.
Das Wohl der Pferde lag den Menschen also sehr am Herzen. Die Bauern beteten an besonderen „Pferde-Schreinen“ für die Tiere und boten sog. ema (Votivplatten mit Pferdemotiven) als Geschenk für die Götter dar. Damals wie heute werden die Wünsche der Bauern auf den ema vermerkt, die dann im Schrein aufgehängt werden. Eine große Anzahl alter ema und viele andere Exponate, die das Zusammenleben von Mensch und Pferd veranschaulichen, kann man im Tōno-Geschichtsmuseum bewundern.
Schaurige Liebe
Von einem Pferd handelt auch eine andere bekannte Legende, die dem Gott Oshira gewidmet ist, der als ein bekleidetes Puppenpaar dargestellt wird. Eine Puppe hat einen Frauen-, die andere einen Pferdekopf. Sie befanden sich früher in jedem Haus, denn Oshira galt als Beschützer des Gehöfts und seiner Bewohner und sollte für eine reiche Ernte sorgen.
Dieser Glaube geht auf eine Tōno-Legende zurück, in der sich ein Bauernmädchen in ihr Pferd verliebt. Dem Vater des Mädchens war die Liebesbeziehung gar nicht recht und hing daher das Pferd an einem Maulbeerenbaum auf. Das Mädchen war über den Tod ihres lieben Partners zutiefst traurig und umarmte das tote Tier. Das wiederum hat den Vater noch mehr verärgert und hackte den Kopf des Pferdes mit einer Axt ab. Als das Mädchen auch den Pferdekopf umarmte, stiegen beide in den Himmel auf. Seither werden sie als die Gottheit Oshira verehrt.
Die Oshira-Puppen werden stets aus einem Maulbeerenbaum geschnitzt und sind weiterhin auch die Schutzpatronen der Seidenraupenzucht. Auch heute kann man diese Puppen noch in manchen alten Häusern, wie zum Beispiel in den Häusern im Tōno-Freiluftmuseum, sehen.
Die Kappa von Tōno
Die landesweit bekanntesten, nicht-menschlichen Wesen von Tōno sind die Kappa. Das sind kleine grüne menschenähnliche Kreaturen mit angeblich übernatürlichen Kräften, die im Saru-ga-ishi-Fluss sowie in Sümpfen und Teichen um Tōno leben sollen. Sie sollen die Größe eines Kindes und teilweise tierähnliche Züge haben, die mal als Dämonen gefürchtet und mal als kami (Götter) verehrt wurden.
Wenn man heutzutage einen Kappa sehen möchte, muss man nicht lange suchen, denn sie sitzen als Stein- oder Porzellanfiguren vor vielen Restaurants und Unterkünften. Man kann auch dem Kappa von Tarobuchi-Teich oder den Kappabuchi-Teich einen Besuch abstatten. Das sind heutzutage beliebte Ausflugsziele für Familien mit Kindern. Dort sollen die Kappa angeblich noch hin und wieder auftauchen und die Eltern schüchtern ihre Sprösslinge gerne mit „Pass auf, dass dich der Kappa nicht holt“ ein.
Museumspartnerschaft
Im Tōno-Geschichtsmuseum und dem Tōno-Freilichtmuseum kann man allerhand über die traditionelle Lebensweise der damaligen Zeit erfahren und sich dann noch besser in die alten Geschichten des Tōno Monogatari hineinversetzen. Es existiert sogar eine Partnerschaft mit der osthessischen Stadt Steinau an der Straße, wo die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm ihre Kindheit verbrachten und heute das Brüder Grimm-Haus an ihr märchenhaftes Vermächtnis erinnert.
Wenn man die Tōno-Legenden gelesen hat, sind die Tōno-Museen unbedingt einen Besuch wert. Danach ist man bereit, auf der Suche nach Geistern und Göttern die Gegend um Tōno zu Fuß oder mit dem Rad zu erkunden.
Buchempfehlung:
Kunio Yanagita “The Legends of Tono. 100th Anniversary Edition”. Translated by Ronald A. Morse. Lexington Books, 2008.
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