Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Shibuya Scramble: Die Kreuzung der tausend Lichter

Yasemin Besir
Yasemin Besir

Wer an Tōkyō denkt, sieht sie oft vor seinem inneren Auge: die gewaltige Kreuzung in Shibuya. Als Symbol der japanischen Geschäftigkeit und Portal in das moderne Japan zieht sie täglich abertausende Menschen auf ihre Straße und in ihren Bann.

Hier wird die Nacht zum Tag: Die berühmte Kreuzung in Shibuya mit ihren strahlenden Lichtern.
Hier wird die Nacht zum Tag: Die berühmte Kreuzung in Shibuya mit ihren strahlenden Lichtern. © makoto.h on photo-ac

Bekannt als Shibuya Crossing, Shibuya Pedestrian Scramble oder auch einfach nur „The Scramble“, ist der überdimensionale Zebrastreifen in Shibuya ohne Zweifel die prominenteste Kreuzung Japans und wird oft als Sinnbild der Millionenmetropole Tōkyō und ihrer Geschäftigkeit betrachtet. Bereits Filmen wie „Lost in Translation“, „Fast and Furious“ oder „Resident Evil“ diente die legendäre Kreuzung als Schauplatz und stellte stets ein unverkennbares Bild des pulsierenden Lebens in Japan dar. Rund um den „Scramble“ herum passiert das junge, moderne Leben Tōkyōs, aber innehalten lohnt sich. Die unmittelbare Nähe der Kreuzung allein verspricht ein einzigartiges Tōkyō-Erlebnis der ganz besonderen Art und lädt zum Reflektieren ein.

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Wenn die Autos rot haben, strömen die Menschenmassen über den langen Zebrastreifen.
Wenn die Autos rot haben, strömen die Menschenmassen über den langen Zebrastreifen. © Janko Ferlič on Unsplash

Verqualmte Entschleunigung

Unmittelbar an einem der Ausgänge vom Bahnhof Shibuya befindet sich die berühmte Statue des treuen Hundes Hachikō. Wer ihn einmal kraulen will, muss sich zu Stoßzeiten leider etwas gedulden, da viele Touristen hierher pilgern um ein Erinnerungsfoto mit der Statue zu schießen. Bei besonders langen Wartezeiten lädt die Smoking Area direkt nebenan zum giftigen Genuss ein und verschlingt einen in ihrem dichten Rauchnebel. Einmal darin versunken, wird man von einem dunstigen Tōkyō empfangen. Die vielen Männer in ihren dunklen Anzügen inhalieren den Rauch als wäre es ihre letzte Zigarette, als könnte es ihnen noch einen allerletzten Schub Leben schenken. Ein älterer Mann in Uniform lotst die vielen Raucher, die aus dem zu kleinen Raucherbereich herausquellen, wieder zurück an ihre Plätze und ist sichtlich überfordert von den vielen Ausländern, die ihn zu ignorieren scheinen.

 

Hachikō ist direkt vor der Tür und doch ist man hier ganz weit weg von dem Geschehen draußen. Die dichte Wolke von Shibuya. Hier warten rastlos auf und ab laufende Jungs an den Grenzen ihrer Geduld auf ihre Verabredungen, nervös wippende Salarymen blicken alle paar Sekunden auf ihre Armbanduhren und müssen ihre Prioritäten neu ordnen: noch eine Zigarette oder den Zug bekommen? Ein ewiges Entschuldigen ist zu vernehmen, da der begrenzte Raum ein ständiges Anrempeln unausweichlich macht. Und sobald einer seinen Platz verlässt, wird er innerhalb von Sekunden gefüllt. Keine Zeit für Lücken. Ein verqualmtes Tōkyō, aber Tōkyō. Ein Klischee, aber authentisch. Es gehört dazu.

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Die Seele von Shibuya

Um Hachikō herum sind wenig einladende Sitzgelegenheiten verteilt, die das lange Verweilen deutlich erschweren. Wer hartnäckig ist kann jedoch versuchen, sich zu entspannen und einen Blick auf die Kreuzung erhaschen. Ein unglaublicher Anblick, den niemand jemals vergessen kann. Eine so enorme Zahl von Menschen (in den Abendstunden pro Ampelphase bis zu 15.000), die diese Kreuzung überqueren, dass es unbegreiflich erscheint. Und wenn man sich Zeit nimmt, sie einfach nur beobachtet, erkennt man die Harmonie in diesem nach Chaos anmutenden Gedrängel. Sie laufen, hasten über den langen Zebrastreifen, in alle Richtungen auf dem Kompass. Als „Scramble“ werden hier alle Ampeln gleichzeitig rot und die Autos kommen zum Stillstand. Die Fußgänger strömen dann mit ihren scheinbar leeren, unberührten Blicken über die Straße, eilen zu ihren Bahnen, die sie schon verpasst haben, ihren Verabredungen, ihrem kalten Bier zum Feierabend. Sie prallen nicht gegeneinander, sondern bewegen sich als ein Organismus, ein zusammengehöriges Individuum, was vor allem von der Rücksicht auf seine Mitmenschen lebt – ein Prinzip, was die Japaner perfektioniert haben. Ist man selbst mitten im Geschehen, ist es schneller vorbei als man sich wünscht. Wer will, läuft einfach nochmal zurück und verinnerlicht das Gefühl wieder und wieder.

Die Dynamik beim "Scramble" ist greifbar. Tausende von Menschen erreichen über diesen Knotenpunkt ihr Ziel.
Die Dynamik beim "Scramble" ist greifbar. Tausende von Menschen erreichen über diesen Knotenpunkt ihr Ziel. © meguraw645 on Pixabay

Die Kulisse ist das moderne Japan aus Filmen, Werbungen, Fotoshootings. Wie auf den glänzenden Seiten der Zeitschriften, in denen wir „the Scramble“ schon mit versunkenen, verträumten Blicken angestarrt haben, strahlt der gesamte Ort in leuchtenden Neonfarben. Die gigantischen Bildschirme, die sich mit jedem Jahr zu vermehren scheinen, blicken auf einen herab, berieseln den Betrachter mit strahlend bunten Videos und werden auch zu frühen Morgenstunden nicht müde. Hier brüllt eine aufgeregte Stimme aus einem Lautsprecher und treibt die Fußgänger zu unüberlegten Kaufräuschen, dort feiert eine Gruppe Jugendlicher eine laute, längst betrunkene Party, noch bevor sie die Izakaya erreicht haben. Alle paar Minuten bummelt ein Promo-Bus mit laut dröhnender Musik über die Kreuzung und bewirbt die neuen Songs der Idols, deren piepsigen Stimmen aus den Lautsprechern ertönen. Am Eingang der Hauptstraße – des Center Gai – stehen strahlende Teenager und verschenken ihre Free Hugs an Passanten, die sich nach einer Umarmung sehnen.

Das hier ist das stereotype Tōkyō, die Schublade, in der das moderne Japan sich eingenistet hat. Die Shibuya Kreuzung nicht vollends zu erfahren wäre ein Verbrechen. Eines, was mit tiefster Reue bestraft wird.

Irgendwie surreal: In den frühen Morgenstunden ist es hier fast menschenleer. © wuman555 on Pixabay

Impressionen im Regen

Ein ganz besonderes Spektakel ist die gewaltige Kreuzung bei Regenwetter. Der Anblick von so vielen Menschen mit ebenso vielen Regenschirmen wirkt beinahe außerirdisch. Von oben betrachtet sieht man hier ein Meer von nassen Farben, die sich zu einem rastlosen, wuseligen Gemälde zusammensetzen: ein pointilistisches Werk der Moderne, ein Seurat neuinterpretiert. Die kräftig leuchtenden Neonlichter werfen ihre Farbkleckse in die Pfützen zu ihren Füßen, schaffen ein perlmuttartiges Schimmern auf dem nassen Asphalt und ziehen versunkene Blicke in ihre unentrinnbare Tiefe. Die Kamera kann versuchen, diesen Anblick festzuhalten, aber es wird ihr niemals gelingen, das von ihm ausgelöste Gefühl widerzuspiegeln. Den Regen in Shibuya muss man auf seiner Haut spüren und durch seine zusammengekniffenen Augen sehen. Ein Bild für die eigene Ewigkeit. Ohne Fotos, nur Erinnerungen.

Am frühen Morgen, zwischen dem letzten Drink und dem ersten Zug, verirren sich die letzten Umherschweifer zum Bahnhof, mindestens jedoch zu Hachikō – zu dieser Zeit nicht mehr als ein verlassenes Relikt des vergangenen Tages. Dort sinken sie wie leblos von ihrem Rausch auf den Boden und betten den Kopf auf ihren Aktenkoffern. Das aus der Brusttasche gleitende Handy wird diskret von besorgten Passanten zurück in die Jacke gesteckt, ganz vorsichtig, ohne den Schlafenden zu wecken. Hachikō verurteilt seine Besucher nicht, sondern spendet ihnen Geborgenheit und Ruhe. Bis die ersten Touristen kommen gönnt er sich selbst ein wenig Schlaf.

Hachikō heißt alle seine Besucher willkommen. © はむぱん on photo-ac

Tōkyō leben

In Shibuya erfährt man, was es heißt, Tōkyō einzuatmen, zu fühlen und zu leben. Der Blick auf diese so gutgeölte Maschine, auf dieses sich unentwegt windende Zahnrad lässt die Fremde sich noch fremder anfühlen. So einen Anblick kennt man aus Filmen und hat ihn schon zu oft auf viel zu kleinen Bildschirmen gesehen, aber niemals wirklich begriffen, welche Dimensionen hier herrschen. Wer hier ist, die Geräuschkulisse und Gerüche erlebt und die grenzenlose Beschleunigung des japanischen Lebens spürt, wird sie nie wieder vergessen können. Die Kreuzung ist das pochende Herz von Shibuya, die Straßen seine Venen. Wie kochendes Blut fließen die Menschen über den Asphalt und erfüllen die Stadt mit Leben. „The Scramble“ ist das Portal in das moderne Japan. Nicht die vielen Geschäfte, Cafés, Bars oder Clubs, sondern dieses eifrige, etwas aufdringliche Gefühl der Großstadt, das einen verschlingt und beinahe überfordert. Auf eine unbeschreiblich wundersame Art.

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