Das Iya-Tal: Abgeschiedenheit in den Bergen Shikokus

Marie-Louise Helling
Marie-Louise Helling

Unberührte Natur, die ältesten Hängebrücken Japans und Vogelscheuchen: versteckt zwischen bewaldeten Bergen, im Herzen der Insel Shikoku liegt das Iya-Tal, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.

Die Iya-no-Kazurabashi: einer der ältesten Hängebrücken Japans mitten im Iya-Tal. © photoAC / rupann7777777

Fernab der dicht besiedelten Stadt Tokushima in der gleichnamigen Präfektur auf Shikoku schlängeln sich nur wenige Straßen die Berge ins Landesinnere hinauf. Steile Berghänge und tiefe Felsschluchten prägen das Landschaftsbild. Dem Berg Tsurugi entspringt der kristallklare Iya-Fluss, der sanft ins Tal fließt. Aufgrund der Abgeschiedenheit vom Rest der Zivilisation, gelten die Menschen, die das Iya-Tal ihre Heimat nennen, als zäh und unabhängig. Sie leben größtenteils von Landwirtschaft und dem langsam wachsenden Tourismus. In unregelmäßigen Abständen fahren Busse durch den westlichen Teil („Nishi-Iya“) bis zur Mitte des Tals. Besucher:innen, die auch die wilde Berglandschaft im Osten („Oku-Iya“) erkunden wollen, sind auf ein Auto angewiesen. Idyllisch gelegene heiße Quellen, die berühmten drei geflochtenen Hängebrücken und kleine verwunschene Dörfer locken abenteuerlustige Touristen immer wieder in diese entlegene Region der Präfektur Tokushima.

Blick in die Vergangenheit

Jahrhundertelang war das Iya-Tal von außerhalb nur über schmale, gefährliche Bergpfade zugänglich. Gelegentlich durchquerten es Fußreisende, die von Süd- nach Nord-Shikoku liefen. Während des 12. Jahrhunderts entbrannte ein Krieg zwischen den Samurai-Familien Minamoto und Taira um den Besitzanspruch auf Japan. Nach der Niederlage im Genpei-Krieg (1180-1185) kämpften sich fliehende Taira-Samurai im Neujahr 1187 durch die Wildnis der Berge, bis sie zum östlichen Iya-Tal vorstießen. Dort versteckten sie sich erfolgreich vor den Minamoto, die die Schlacht gewonnen hatten. Es wird erzählt, dass der damals siebenjährige Kaiser Antoku unter ihrer Obhut stand, jedoch zwei Jahre später an Schwäche verstarb. Geschichtlichen Quellen zufolge erreichte der Tennō allerdings nie Shikoku, sondern starb während der letzten großen Seeschlacht von Dan-no-ura im Meer. Die Taira-Samurai wurden zu den neuen Oberhäuptern der Bergdörfer und überließen den Einheimischen die landwirtschaftliche Arbeit. In den spärlich vorhandenen Dörfern, die sich an die Berghänge schmiegten, wurden größtenteils Hirse, Buchweizen und Kartoffeln angebaut. Der Reisanbau war aufgrund fehlender freier, flacher Flächen unmöglich. Erst im 20. Jahrhundert wurden die ersten breiteren Straßen und Tunnel gebaut, um den Anreiseweg zu erleichtern und den Warenaustausch zu ermöglichen. Endlich konnten die Bewohner:innen in den Genuss von importierten Reis kommen. Stetig wuchs der Kontakt mit der Welt hinter den Bergen und die einzigartige wilde Schönheit des Iya-Tals begann sich in Japan herumzusprechen.

Das westliche Tal

Die ersten 15 Kilometer des Iya-Tals sind bekannt für die Iyakei-Schlucht, deren bewaldete Hänge zur Herbstfärbung magisch anmuten. Die Hi-no-Ji-Biegung, die an das Hiragana-Zeichen ひ (hi) erinnert, ist ein begehrter Ort, um Fotos zu schießen. Auch eine etwas abgewandelte Nachbildung des belgischen Manneken Pis findet sich auf einem Felsvorsprung über der Schlucht. Sie soll an mutige Kinder erinnern, die sich auf den Felsvorsprung wagten, um hinabzuschauen. Der Iya-Highway ist die einzige asphaltierte Straße, die an den Klippen entlang verläuft und atemberaubende Ausblicke auf die Schlucht ermöglicht.

Statue eines Jungen hoch über den Bergen: ein Symbol für den Mut kleiner Kinder. © photoAC / mitu

Vom Westeingang aus fährt ein öffentlicher Bus durch diesen unberührten Abschnitt des Tals bis zur berühmten, zentral gelegenen Iya-no-Kazurabashi-Brücke. Aus Weinreben geflochten mit einer Länge von 45 Metern zieht die Brücke die meisten Besucher:innen an. Der Legende nach soll die Konstruktion eine Idee der Taira-Samurai gewesen sein, damit sie im Falle einer Verfolgung die Reben durchschneiden und fliehen konnten. Der Eintritt zum Brückengelände kostet derzeit 550 Yen (ca. 3,50 Euro). Auch wenn sie auf den ersten Blick einen wackeligen Eindruck erweckt, so ist die Sicherheit durch ständige Kontrollen gewährleistet. Zudem wird sie alle drei Jahre erneuert und durch robuste Stahlseile abgesichert. Nach oder vor einem abenteuerlichen Spaziergang über die Brücke, laden die umliegenden Restaurants zur Einkehr ein: Die Iya-Soba-Nuden gelten als regionale Delikatesse und können im gesamten Gebiet rund um das Tal probiert werden.

Die Hi-no-Ji: eine Flussbiegung, die an ein Hiragana erinnert. © photoAC / mitu

Das östliche Tal

Als nationales Denkmalschutzgebiet ausgewiesen lädt das historische Dorf Ochiai zu einer Erkundungstour ein. In 400 Metern Höhe liegen die fast 200 Jahre alten Häuser verstreut am Berghang. Das Nagaoka-ke-Haus kann kostenlos besichtigt werden. Einige der Wohnhäuser wurden zu Gasthäusern umgewandelt, sodass sich auch eine Übernachtung vor Ort möglich ist, um den klaren Sternenhimmel und die Ruhe der nächtlichen Berge zu genießen. Ein Stück weiter der Straße folgend, findet sich das Dorf Nagoro. Berühmt ist es für seine 300 Vogelscheuchen, die die Künstlerin Tsukimi Ayano, in Erinnerung an verstorbene oder weggezogene Bewohner:innen von Hand anfertigte und aufstellte. Lebendigen Menschen ähnlich sitzen sie an Bushaltestellen oder stehen angelehnt an Häusern.

Noch weiter im Osten befinden sich die Oku-Iya-Kazurabashi-Brücken („Paarbrücken“): Die Tsuma-no-Hashi („Ehefrau-Brücke“) misst 22 Meter, ihre Partnerbrücke ist 44 Meter lang und heißt Otto-no-Hashi („Ehemann-Brücke“). Auch hier kostet der Eintritt 550 Yen, Kinder bezahlen nur 350 Yen (ca. 2,20 Euro).

Das letzte anfahrbare Ziel am Ende des Iya-Tals ist der Berg Tsurugi. Dort soll der Legende nach, das Schwert des jungen Antoku vergraben sein. Mit seinen 2.999 Höhenmetern zählt er zu den höchsten Bergen Japans. Herausfordernde Wanderwege führen bis zu seiner Spitze, wo dem erfahrenen Wanderer als Belohnung die Berglandschaft Shikokus zu Füßen liegt.

Der Berg Tsurugi: einer der höchsten Berge Japans mit zahlreichen Wanderwegen und eindrucksvollen Ausblickspunkten. © photoAC / kojikamei

Anfahrt zur Iya-no-Kazurabashi-Brücke

Vom Bahnhof Awa-Ikeda fährt ein Bus nach Kubo (Fahrtzeit ca. 2 Std., einfache Fahrt 1.790 Yen; 4 Busse/Tag). In Kubo in Richtung Nijukazurabashi oder Mount Tsurugi umsteigen und an der Haltestelle Nijukazurabashi aussteigen (Fahrtzeit 30 Min., einfache Fahrt 430 Yen; 2 Busse/Tag). Die Busse von Kubo zur Brücke verkehren nur an Wochenenden und in der Hochsaison von April bis November.

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