Nara, die alte Hauptstadt der gleichnamigen Epoche (710-794) gilt als Wiege der buddhistischen Kultur Japans. Hier befinden sich mehrere bedeutende Tempelanlagen, darunter der Kōfukuji und der imposante Tōdaiji mit seiner 15 m hohen, bronzenen Buddhastatue.
Doch die buddhistischen Tempel und der berühmte Shintō-Schrein Kasugataisha − die übrigens alle zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen − sind nicht die einzigen Heiligtümer im 8 km² großen Nara-kōen (Nara-Park). Die über 1200 wilden Sika-Hirsche, die hier gemütlich zwischen Kirschbäumen, Steinlaternen und Sehenswürdigkeiten grasen, galten ebenfalls viele Jahrhunderte als heilig und genießen noch heute einen besonderen Schutz. Kein Wunder also, dass sie sich an das Zusammenleben mit den rund 357.000 menschlichen Bewohnern Naras sowie den zahlreichen Touristen gewöhnt haben. Und vielleicht sogar ein bisschen von deren Zuwendung verwöhnt sind. Schließlich gibt es hier sogar speziell für die Tiere produzierte Kekse (Shika-Sembei), nach denen sie so verrückt sind, dass es immer wieder zu der ein oder anderen lustigen Begegnung kommt.
Woher kommen Naras Hirsche?
Der heilige Status der Sika-Hirsche basiert auf einer alten Legende. Laut dieser soll Takemikazuchi-no-Mikoto, eine der vier Gottheiten des Schreins Kasugataisha, im Jahr 768 nach Nara eingeladen worden sein. Sie legte den ganzen Weg von der weit entfernten Präfektur Ibaraki aus auf einem weißen Hirsch zurück, weshalb die Tiere seitdem als Götterboten betrachtet werden.
Die Hirsche galten offiziell als Heiligtümer und standen unter einem strengen Schutz. Wer es wagte, eines der Tiere zu töten, musste mit harten Strafen rechnen und sogar um sein eigenes Leben fürchten. So ist es kein Wunder, dass sich ihr Bestand vergrößern und sie sich an das Leben mit den Menschen gewöhnen konnten.
Auch wenn Naras Hirsche heute nicht mehr offiziell heilig sind, so gelten sie seit Ende des 2. Weltkriegs als nationales Kulturgut und Symbol der Stadt. Es gibt sogar eine Stiftung, die sich um den Schutz der Tiere kümmert. So werden zum Beispiel die im Frühling zur Welt kommenden Jungen mit ihren Müttern in einem speziellen Zentrum versorgt, bis sie alleine zurechtkommen und wieder in den Park zurückgebracht werden können.
Um ein friedliches Zusammenleben zwischen Mensch und Tier zu garantieren gibt es außerdem jeden Herbst ein Ritual, in dem ein Shintōpriester auf dem Gelände des Kasugataisha das Geweih der aggressiven männlichen Hirsche zurückschneidet.
Vorsicht bei der Begegnung
Trotz dieser Vorkehrungen ist der Kontakt zu den niedlichen Sika-Hirschen nicht ganz ungefährlich. Immerhin handelt es sich bei ihnen trotz Zutraulichkeit um wilde Tiere. Die Stadt Nara hat daher im ganzen Park Schilder aufgestellt, auf denen vor möglichen Zwischenfällen gewarnt wird: Bisse, Tritte, Stöße und Umschubsen. In den letzten Monaten (Stand: Februar 2018) häuften sich sogar die Fälle, in denen vor allem Touristen von Hirschen verletzt wurden.
Doch keine Sorge: Wer die Tiere, wie die Einwohner Naras, mit Rücksicht behandelt und einige Verhaltensregeln beachtet, dem sollte im Normalfall nichts passieren. Die Sika-Hirsche sind in der Regel nicht angriffslustig, sondern vor allem hungrig nach Shika-Sembei – kreisförmige Kekse, die überall im Park verkauft werden. Obwohl sie sich zum Großteil von Gras ernähren, sind die Hirsche ganz verrückt nach diesen Snacks und reißen sie den Besuchern regelrecht aus der Hand.
Achten Sie darauf, die Tiere nicht zu ärgern. Stoßen, Treten und sonstige Spielereien können die Hirsche verärgern. Vor allem im Frühling, wenn die Jungen zur Welt kommen, sind Hirschkühe besonders empfindlich und sorgen sich um ihren Nachwuchs. Die männlichen Tiere sind dagegen vor allem zur Paarungszeit im Herbst aggressiv. Außerdem sollten Sie den Sika-Hirschen nichts anderes als Shika-Sembei zum Fressen geben, da dies die Gesundheit der Tiere gefährden könnte. Der Papiersteifen, der um die Kekse gewickelt ist, ist dabei jedoch kein Problem.
Hauptsache Futter
Wer schon einmal in Nara war, der weiß, dass das Einhalten dieser Regeln gar nicht so einfach ist. So sammeln sich die neugierigen und hungrigen Tiere in Scharen um die Keks-Verkaufsstände und warten oft gar nicht erst darauf, dass die Sembei fertig ausgepackt sind. Wer erst ein Foto machen möchte, der muss mit verärgerten Tieren rechnen. Lustige Verfolgungsszenen, in denen Besucher – die Sembei in der einen und die Kamera in der anderen Hand − vor einer Schar von Sika-Hirschen davonlaufen, sind keine Seltenheit. Und wer nicht aufpasst, dem kann es schnell mal passieren, dass der zur Orientierung so wichtige Stadtplan angeknabbert wird.
Es empfiehlt sich also, die Tiere zuerst zu füttern und sich das Foto dann erst anschließend zu organisieren. Außerdem sind alleine umherlaufende Hirsche leichter zu bändigen als eine ganze Schar. Doch auch wenn die Art des Kontakts selbstverständlich nicht immer zu 100 Prozent vorhersehbar ist: Naras Hirsche sind zwar manchmal ganz schön frech, aber dennoch unglaublich süß.
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