Durchzogen vom breiten, ruhigen Azusa-Fluss, dessen türkisblaues Wasser für so manchen Städter beinahe unnatürlich wirken könnte, ist Kamikōchi (Präfektur Nagano) ein wahres Paradies für Natur- und Outdoor-Freunde. Das 15 km lange Tal liegt mitten in den Nördlichen Japanischen Alpen und ist der ganze Stolz des Chūbu-Sangaku-Nationalparks. Es ist umgeben von hohen Gebirgen, angeführt vom Hotaka-Gebirgszug, der an seinem höchsten Punkt über 3.000 m misst. Furchteinflößender ist vielleicht nur der Yakedake – ein aktiver Vulkan, der zuletzt 1965 ausbrach.
In atmosphärischer Stille bewegt man sich auf Kiesufern entlang des Azusa, umgeben von waldbedeckten, steilen Berghängen, die manchmal hinter tief hängenden Wolken verborgen sind. Auf schmalen, erhöhten Holzpfaden wandert man über Wiesen und Moore. Weit weg vom Grau der Städte mit ihren störenden Oberleitungen und ohne eine Spur des technologisierten Alltags verliert man sich in Kamikōchi mit allen Sinnen in der Natur.
Von Kamikōchi in die Welt
1828 soll der buddhistische Mönch Banryū als erster Mensch die Berge des Kamikōchi-Tals bestiegen haben, als das Bergsteigen noch als religiöse Naturverehrung galt. Dies änderte sich in der Meiji-Zeit, als westliche Gesandte das Wandern und Bergsteigen als Sport- und Freizeitaktivität nach Japan brachten. Der britische Missionar und Lehrer Walter Weston, der „Vater des Bergsteigens in Japan“, erklomm 1891 den Berg Yari in Kamikōchi und schrieb seine Erfahrungen in einem Buch nieder. Das wurde prompt zu einem Bestseller der Reiseliteratur und führte zu einem Boom der Japanischen Alpen im In- und Ausland. Auch die Novelle „Kappa“, ein berühmtes Werk des japanischen Schriftstellers Akutagawa Ryūnosuke aus dem Jahre 1927, spielt im Tal – noch im selben Jahr wurde dieses zu einer von Japans szenischsten Landschaften gewählt. Bereits ein Jahr später verdoppelten sich die Besucherzahlen.
Heute ist Kamikōchi ein beliebtes Ausflugsziel und das nicht nur wegen seiner Nähe zu den touristisch bekannten Städten Matsumoto und Takayama. Es sind die außergewöhnlichen Landschaften und die unberührte Wildnis, die die Region so attraktiv für Abenteuerlustige machen. Kamikōchi verfügt über eine unverwechselbare Flora und Fauna und ist Heimat vieler Tier-, Pflanzen- und Insektenarten. Besonders vor frechen Japan-Makaken muss man sich und seine Habseligkeiten mitunter hüten. Mit viel Glück erblicken Wanderer vielleicht ein Alpenschneehuhn, einen Marderhund oder sogar einen Japanischen Serau! Letzterer gilt als bedrohte Art, sodass die Sichtung dieser seltenen Tiere eine wertvolle Ehre darstellt.
Natur und Kultur entdecken
Ausgedehnte Touren durch die Berg- und Wiesenlandschaften Kamikōchis beginnen meistens im Besucherzentrum, von dem das ikonische Wahrzeichen des Ferienortes, die Kappabashi-Brücke, nicht weit entfernt ist. Lohnenswert ist eine entspannte Tageswanderung von der Myōjin-Brücke im Norden bis zum idyllischen Taishō-Teich im Süden des Tals, was in ein paar Stunden zu bewältigen ist. Nach einem Ausbruch des Yakedake 1915 wurde der Azusa-Fluss blockiert, was zur Entstehung des Teiches führte. Bei Windstille spiegelt sich das spektakuläre Panorama des Hotaka-Gebirgszuges in dessen Gewässer wider.
Eine einstündige Wanderung von der Kappabashi Richtung Norden führt zum heiligen Myōjin-Teich mit seinem kristallklaren Wasser und dem Hotaka-Schrein. Dort wird Hotaka-no-mikoto, Gottheit der Japanischen Alpen, des See- und Landverkehrs, verehrt. Während des traditionellen Bootsfestivals im Oktober wird ihm in einer eleganten Zeremonie für sichere Reisen durch die Berge gedankt. Lebhafter wird es Ende April: Zur feierlichen Eröffnung der Saison finden im Zentrum verschiedene Vorführungen statt, darunter traditionelle japanische Tänze und Alpenhorn-Musik. Letztere ist der freundschaftliche Beitrag von Matsumotos schweizerischer Schwesterstadt Grindelwald.
Gute Vorbereitung ist alles
Kamikōchi ist nicht das ganze Jahr über zugänglich. Die Saison startet Ende April und endet Mitte November. Vor allem im Sommer sowie an Wochenenden während der eindrucksvollen Herbstlaubfärbung können die Wege schon einmal sehr voll werden. Das Tal ist zwar nicht vollständig touristisch erschlossen, aber es gibt im Zentrum einige Unterkünfte, Restaurants und Geschäfte. Bankautomaten oder Convenience Stores sucht man jedoch vergeblich.
Mal abgesehen von der Regenzeit im Juni und Juli ist das Wetter in Kamikōchi während der Saison relativ mild, im August herrschen durchschnittlich 15 bis 20 Grad. Allerdings sind die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht erheblich und das Wetter kann in den höheren Gebieten sehr schnell umschwenken. Selbst im Mai liegt mitunter noch Schnee. Dementsprechend sind eine passende Ausrüstung, wärmende Kleidung und wasserdichtes Schuhwerk auch bei Kurzaufenthalten äußerst wichtig, um sich vor der Witterung zu schützen.
Im Einklang mit der Umwelt
Als Teil des Chūbu-Sangaku-Nationalparks stehen Kamikōchi und dessen Gewässer, Wälder und Moore unter besonderem Naturschutz. Die Mitarbeiter:innen des Nationalparks scheuen keine Mühen, um die natürlichen Lebensräume der Wildtiere zu erhalten und Gäste über die Biodiversität und Schönheit der Region aufzuklären. Auf Umweltschutz wird der höchstmögliche Wert gelegt und Besucher:innen sind aufgefordert, keinen Müll zu hinterlassen, auf den Wanderwegen zu bleiben und die Tiere aus der Ferne zu bewundern. Auf diese Weise tragen alle ihren Teil dazu bei, dass Kamikōchis prächtige Wildnis weiterhin ungestört gedeihen kann.
Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der JAPANDIGEST April 2023-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
Kommentare