Es ist fast schon ein Ritual: Circa alle zwei Wochen laufe ich von meinem Büro ein paar hundert Meter zu einem italienischen Restaurant. Dieses hat eine riesige Küche, die man komplett einsehen kann — frische, eisgekühlte Austern liegen hinter dem Tresen, einer grillt gerade Gemüse, ein anderer stopft gerade Würste – so gut wie alles wird hier selbst gemacht, und es schmeckt auch fantastisch. „Pranzo A, per favore“, sage ich dem Kellner. Die Angestellten müssen sich hier italienische Grundkenntnisse aneignen und auch untereinander benutzen. Ich entscheide mich beim Mittagsmenü A für die Linguine mit blauer Krabbe. Einer ganzen Blaukrabbe, wohlgemerkt – nicht eine Sauce, an der eine Krabbe kurz vorbeigelaufen ist.
Aber zuerst kommen die Antipasti, ein Salat mit etwas Wurst, Fisch, gereicht mit selbstgemachtem Brot, Olivenöl und Gazpacho. Kaum ist man fertig, kommt die Hauptspeise, und das ganze Mahl wird abgerundet mit einem Stückchen Schokolade und einem Espresso Doppio, oder einem anderen Getränk der Wahl. „Il conto, per favore!“ – die Rechnung für das Festessen beträgt 1.280 Yen, also knapp 9 Euro. Für das gleiche Mahl würde ich übrigens 6 Stunden später das Drei- bis Vierfache bezahlen.
Die Magie der Mittagszeit
Es sind nicht nur italienische , sondern auch feine japanische und andere hochwertige Restaurants, die mit unglaublich preiswerten Mittagsmenüs locken. Die Preise sind oft so niedrig, dass man sich unweigerlich fragt, wie die Restaurants das überleben – und warum sie sich das überhaupt antun, denn die Mittagszeit ist stressig: Die Mehrheit der Gäste kommt zur gleichen Zeit, nämlich zwischen 12 und 13 Uhr, und beschwert sich umgehend, wenn der Kellner länger als fünf oder zehn Minuten braucht.
Dabei könnte man nun vermuten, dass die günstigen Mahlzeiten sogenannte „loss leader“ sind – Schnäppchenangebote, um neue Kunden zu gewinnen, die dann auch mal abends vorbeischauen. Doch dem ist nicht so: Die Mittagskunden sind ein ganz anderes Klientel, und in der Regel sind sie nur wegen der Arbeit in der Stadt und fahren danach zurück in ihre Wohnviertel außerhalb.
Strategie hinter Billigpreisen
Mit den Mittagsmenüs versuchen die Gastronomen, zwei wichtige Kostenfaktoren im Zaum zu halten: die für Zutaten und die für das Personal. Denn für die meisten Restaurants ist es schwer, vorherzusagen, was genau am Abend alles verkauft wird. Oft bleibt Etliches liegen, was am nächsten Abend nicht mehr angeboten werden kann. Die Mittagstische dienen deshalb dazu, die übriggebliebenen verwertbaren Zutaten zu verwenden. Ein weiterer Faktor ist auch, dass man höhere Rabatte bekommt, je mehr man einkauft. Außerdem kann man so auch das Vollzeitpersonal bestmöglich auslasten, denn die wenigen Stunden am Abend reichen oft nicht, um die Personalkosten zu decken.
Nun gibt es solche und solche Restaurants. Familienrestaurants, Kettenrestaurants und Restaurants, die sich zum Beispiel allein auf Rāmen spezialisieren, unterscheiden nicht zwischen Mittags- und Abendzeit. Beispiel Rāmen- und Kettenrestaurant: Dort herrscht grundsätzlich eine hohe Rotationsrate. Die Kunden kommen, essen und verlassen das Lokal wieder, ohne sich lange aufzuhalten. Man kann also durch die Gästezahl allein viel Geld einnehmen. In besseren Restaurants hingegen bleiben die Gäste abends gern viele Stunden sitzen – damit sind die zwar oft voll, können aber nicht viel Umsatz generieren. Hier helfen die Mittagsmenüs, denn die Gäste haben zur Mittagszeit meist wenig Zeit und machen schnell Platz für die nächsten.
Hart umkämpfte Branche
Manche Restaurants sind bei der Beschaffung ihrer Zutaten dabei erstaunlich konsequent. Diese arbeiten nach dem Prinzip 売り切れごめん (urikire gomen,„Tut uns leid, ausverkauft“): Sind die Zutaten aufgebraucht, gibt es das Gericht für heute eben nicht mehr. Und wenn das Restaurant nur auf ein oder zwei Gerichte (wie Rāmen) spezialisiert ist, wird es kurzerhand geschlossen. Restaurants, vor allem sehr kleine, dieser Art gibt es erstaunlich viele in Japan. Eigentlich widerspricht diese Geschäftsweise grundlegenden Wirtschaftsprinzipien – ist der Bedarf da, sollte man ihn decken – doch die Besitzer wollen einfach nur vermeiden, zu viel Essen wegwerfen zu müssen. Zudem ist eine künstliche Verknappung auch ein veritabler Marketingtrick. Äußerst beliebte Restaurants können da auch rabiat sein und ihre Kunden nach einer knappen Stunde aus dem Lokal komplementieren.
All diese Regeln gelten hauptsächlich für die Innenstädte der Metropolen, und sie zeigen, wie hart umkämpft der Gastronomiesektor ist. Knapp 20 % aller neu eröffneten Restaurants in Japan überlebt die ersten fünf Jahre nicht – das ist mehr als in allen anderen Wirtschaftszweigen.
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