Die senile Hausverwalterin meiner zweiten oder dritten Wohnung in Japan antwortete gelegentlich ernsthaft verwundert „Otaku donata desu ka?“, wenn ich sie freundlich grüßte. Das ist sehr höfliches, vor allem aber sehr altes Japanisch und bedeutet schlicht „Wer sind Sie?“ Aus dem Wort für „Ihr Zuhause“ wurde eine formelle Anrede, also ein sehr höfliches „Sie“ (vor allem Fremden gegenüber) und der Begriff geriet bei der jüngeren Generation bereits fast in Vergessenheit, als sich 1982 zwei Charaktere in einem Manga mit „Otaku“ ansprachen und viele Leser erst einmal überlegen mussten was nochmal die Signifikanz der Bezeichnung im diesem Kontext überhaupt bedeutete.
Das Wort wurde von Verhaltensforschern zunächst als ein Begriff geprägt, der in erster Linie enthusiastische Manga- bzw. Animefans bezeichnet. Und davon gibt es bekanntlich seit jeher sehr viele in Japan. Doch kaum war die Bezeichnung geboren, wurde sie schon vornehmlich negativ konnotiert. Grund dafür war der Fall Tsutomu Miyazaki – ein Einzelgänger, der Ende der 1980er vier kleine Mädchen auf wahrhaft bestialische Weise ermordete und schließlich 2008 für seine Verbrechen gehängt wurde. In seiner Wohnung fanden sich unzählige Mangas und Animes, aber auch indizierte Horrorfilme wie die berüchtigte japanische „Guinea Pig“-Serie. Die Medien stellten Miyazaki deshalb schnell als „den Otaku-Mörder“ dar, was natürlich leicht impliziert, dass Otaku potentiell sehr gefährlich sind. In anderen Worten: Stille Wasser sind tief; manchmal jedenfalls.
Die Debatte kennt man auch vor dem Hintergrund von sogenannten Ballerspielen oder anderen subkulturellen Themen, die explizite Gewalt oder gesellschaftliche Tabus aufgreifen. So weit ist der Vergleich tatsächlich nicht hergeholt, da es in Japan unzählige Mangas, Animes, Filme und Videospiele von pornografischer und gewaltverherrlichender Natur gibt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass automatisch jeder Otaku-Medien mit solchen Inhalten besitzt. Dennoch wurde der Begriff Otaku somit zunächst auf Jahrzehnte extrem stigmatisiert.
Seit der Jahrtausendwende hingegen, beginnt sich die Bezeichnung von ihrem Schandmal zu lösen. Das liegt zum einen an der rasanten Verbreitung der japanischen Manga- und Animekultur, aber auch an dem zunehmend inflationären Gebrauch des Worts Otaku. Jener steht schon längst nicht mehr nur für einen Fan gewisser Subkulturen und all derer Auswüchse, sondern auch für Menschen, die sich einfach nur mit Leidenschaft für eine ganz spezielle Sache interessieren. Die Eisenbahn-Otakus gehören definitiv dazu. Manche betreiben ihr Hobby so versessen, dass man schon fast auf das Asperger-Syndrom tippen möchte, doch dem ist natürlich nicht (immer) so. Mit sehr viel Energie werden da alle möglichen Züge aus jedem erdenklichen Winkel fotografiert und manche ziehen sogar mit teurer Tontechnik los, um die verschiedenen Zugansagen und Bahnhofsmelodien für Ihre Sammlung aufzunehmen.
Viele, vor allem in der Manga-, Anime- und Cosplay-Szene benutzen die Bezeichnung nunmehr quasi mit einer Portion Stolz – auch in Japan. Ob der Begriff jedoch negativ oder positiv gebraucht wird, hängt heutzutage lediglich davon ab, in welchem Kontext und auf welche Weise das Wort fällt. Dass Otakus übrigens auch sehr gesellig sein können sieht man sehr schön an der Fernsehsendung Tamori Club, die jeden Freitag kurz nach Mitternacht (also am Sonnabendmorgen) ausgestrahlt wird: 30 Minuten Otakuismus vom Feinstem, mit viel Humor und Augenzwinkern. So kommt spätestens auf diese Weise auch die schlichte Erkenntnis hinzu, dass Otakus ganz normale, irgendwie aber auch besondere Menschen sind, die auf ihre Vorlieben stolz sein können.
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