Jedes Jahr werden einige aufregende Künstlerinnen und Künstler aus Japan eingeladen, die auf dem Japan-Tag Düsseldorf/NRW auf der Bühne stehen und das Publikum mit ihrer Musik für das große Feuerwerk begeistern. In diesem Jahr war die Singer-Songwriterin Higuchi Ai zu Gast, die insbesondere durch ihren Song Akuma no Ko (悪魔の子, „Kind des Teufels“), Ending-Song des populären Anime „Attack on Titan: The Final Season Part 2“*, bekannt wurde. Wir haben mit Higuchi über ihre Gedanken zu dem Lied und ihre Eindrücke von Deutschland gesprochen, als sie im Mai/Juni 2024 im Rahmen von Auftritten in Köln, Frankfurt und Düsseldorf ihre allerersten Europa-Konzerte gab.
Erfolg durch „Attack on Titan“ – mit ernsten Lyrics
Menschen vom Lande, die vereinsamt in Tōkyō leben. Die unter anhaltendem Liebeskummer leiden oder in der Vergangenheit gemobbt wurden. Viele von ihren Liedern schreibt Higuchi Ai über Menschen aus ihrem eigenen Umkreis. Sie drücken die Emotionen und Erfahrungen jener aus, die die Schattenseiten des Lebens kennen – manchmal auf raue Art und Weise, aber auch irgendwie mit einem Gefühl der Hoffnung. „Attack on Titan“ ist eine düstere Fantasiewelt, in der die Grausamkeit der Menschheit gezeigt wird. Dass die Wahl für den Ending-Song auf Higuchi fiel, könnte auf eine gewisse Affinität zwischen dem Motiv des Animes und Higuchis Stil zurückzuführen sein. Higuchi selbst deutete diese Wahl folgendermaßen: „Die meisten Künstler, die bisher einen Opening- oder Ending-Song für ‚Attack on Titan‘ gesungen haben, waren Männer. Doch je komplexer die Handlung wurde, desto mehr ging die Geschichte nicht einfach mehr darum, wie der Protagonist Eren stärker wird und seine Gegner besiegt. Vor diesem Hintergrund wollten die Produzenten einen von Stärke singenden Mann vielleicht nicht mehr für das Ending präsentieren.“
Während des Komponierens war Higuchi verblüfft, welche Schlüsselrolle das Thema „Krieg“ in der Handlung des Animes einnimmt: „Ich habe nicht versucht, so zu tun, als würde ich etwas davon verstehen, schließlich habe ich noch nie einen Krieg miterlebt. Ich wusste nicht einmal, ob ich dieses Wort überhaupt im Songtext einbauen sollte“, so Higuchi. „Je mehr ich das Konzept des Krieges allmählich enträtselte, desto mehr wurde mir klar, dass sich uns eher vertraute Themen wie Mobbing oder Hass gegenüber einer bestimmten Person schnell zu einem Konflikt entwickeln können. Wenn ich diesen Gedanken als Ausgangspunkt nähme, könnte ich das Lied vielleicht mit meinen eigenen Worten singen, sodass sich auch Menschen wie ich, die nichts über Krieg wissen, eher damit identifizieren können.“
So ist der Song Akuma no Ko entstanden – eine typische Herangehensweise für Higuchi Ai, die sich trotz mangelnder Erfahrung mit komplexen Themen wie Krieg auseinandersetzt, indem sie sich in ihrer eigenen Umgebung umschaut und daraus Inspiration für ihre Lieder zieht.
„Für mich ist das Geben einer Hand an die nächste Person eine Möglichkeit, sich um jemand anderen zu kümmern“
Kurz nach dem Release des Songs im Januar 2022 brachte der Beginn der russischen Invasion in die Ukraine den Krieg näher an ihr Heimatland:
鉄の雨が 降り散る情景
テレビの中 映画に見えたんだ
戦争なんて 愚かな凶暴
関係ない 知らない国の話Tetsu no ame ga furichiru jōkei
Terebi no naka eiga ni mietanda
Sensō nante oroka na kyōbō
Kankei nai shiranai kuni no hanashiSzenen, in denen es Eisen regnet
Es war wie ein Film im Fernsehen
Krieg ist eine dumme Brutalität
Die Geschichte eines mir fremden, unbekannten Landes
Es ist eine Strophe aus Akuma no Ko, die plötzlich Realität geworden ist. Aufgrund des Zeitpunkts des Release wurde das Musikvideo auf YouTube mit Kommentaren zur Ukraine geradezu überschwemmt. „Es war sehr beängstigend. Als würde ich auf der Straße eine Rede halten und plötzlich schauten alle auf mich, weil der Krieg so nah war, während die Leute früher einfach an mir vorbeigingen”, erzählt Higuchi. Ihr wurden die Schrecken eines Krieges, der jeden Tag plötzlich ausbrechen kann, am eigenen Leib bewusst. „Wenn ich darüber nachdenke, wie wir Weltfrieden erreichen könnten, glaube ich, dass man die Hand der Person neben sich ergreifen sollte, so dass wir uns schließlich alle die Hände reichen. Für mich ist das Geben einer Hand an die nächste Person eine Möglichkeit, sich um jemand anderen zu kümmern. Aber ich weiß natürlich, dass dies kaum zu erreichen ist…“
世界は残酷だ
それでも君を愛すよ
なにを犠牲にしても
それでも君を守るよSekai wa zankoku da
Soredemo kimi wo aisu yo
Nani wo gisei ni shitemo
Soredemo kimi wo mamoru yoDie Welt ist grausam
Dennoch liebe ich dich
Egal, was ich opfern muss
Ich werde dich beschützen
Wenn man sich um die kümmert, die einem nahestehen, wird das am Ende zum Weltfrieden führen. Dieser Gedanke prägt den Text von Akuma no Ko.
Über Japan und Deutschland
Während ihres Deutschland-Aufenthalts gab Higuchi Ai drei Live-Konzerte beim Nippon Connection Filmfestival in Frankfurt, im Japanischen Kulturinstitut Köln sowie auf dem Japan-Tag in Düsseldorf. Es war ihre erste Reise nach Europa überhaupt: „Die Luft, die Geräusche, die Landschaft, die Menschen… alles ist anders als in Japan. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich Japan irgendwie nahe bin. Die Art und Weise, wie die Menschen hier Konzerten lauschen ähnelt der von Japanerinnen und Japanern. Das Gefühl der Ruhe, wenn ich spiele, ist fast identisch“, erzählt Higuchi. „Auch wenn die Zuschauer kein Japanisch verstehen, kann ich spüren, dass sie es versuchen.“
Auf die Frage, wie sich die deutsche Sprache für sie anhört, antwortet sie lachend: „Sie braucht viel Atem und ist ruhig zu hören. Aber es gibt Leute, die wirklich laut lachen!“ Es wird oft gesagt, dass sich Japan und Deutschland in vielerlei Hinsicht ähneln. Die 34-Jährige hofft daher, dass auch deutsche Fans Japan zahlreich besuchen werden: „Ich glaube, dass sich deutsche Reisende in Japan wohlfühlen werden.“
„Es ist dieser Zyklus von Zerstörung und Wiedergeburt, den ich an Tokyo besonders mag“
Higuchi Ai legt derzeit in Tōkyō und hat mehrere Songs geschrieben, die von „Tōkyō“ handeln oder „in Tōkyō“ spielen. Dort stellt die vom Land stammende Higuchi die japanische Hauptstadt aus einer etwas anderen Perspektive dar: „Ich arbeitete eine Zeit lang als Tourismus-Beauftragte im Tōkyōter Stadtteil Shibuya, wo ich touristische PR-Projekte betreut habe. Damals hörte ich, dass viele Menschen nach Shibuya kommen – aber nie dort verbleiben. Sicher, es gibt die Kreuzung und die Hachikō-Statue. Die Menschen schauen sich beides an, gehen dann aber eben weiter. Wir haben darüber diskutiert, was wir tun können, um das zu ändern. Nun, Tōkyō ist eine Stadt, die immer wieder ‚zerstört und wieder aufgebaut, zerstört und wieder aufgebaut‘ wurde, nicht wahr? Die ganze Landschaft hat sich so sehr verändert, dass man sich kaum noch an die Gebäude oder an das Hotel erinnert, in dem man übernachtet hat. Die Stadt bleibt nicht in Erinnerung. Doch es ist dieser Zyklus von Zerstörung und Wiedergeburt, den ich an Tōkyō besonders mag.“
Sie erzählt weiter, dass sie jedes Mal etwas Neues entdeckt, wenn sie nach Tōkyō kommt. Doch als ultimativen Reisetipp empfiehlt Higuchi ihre Heimat Nagano: „Etwa eine Stunde Busfahrt von Nagano-Stadt entfernt liegt das Dorf Togakushi. Dort stehen drei uralte Zedernbäume und eine von riesigen Bäumen gesäumte Allee, die zum Okusha-Schrein führen. Dieser Ort ist so überwältigend, als ob er nicht Teil unserer menschlichen Welt wäre… Allerdings wird es schon gegen 17 Uhr dunkel, deshalb sollte man früh dorthin reisen!“ Togakushi ist im Übrigen für besonders schmackhafte Soba-Buchweizennudeln berühmt!
Ungewisse Zukunft und neue Herausforderungen
Im Januar 2024 erschien Higuchis fünftes Studioalbum Misei Senjō (未成線上, „Auf der unvollendeten Strecke“). Viele ihrer Lieder sind düster und rückwärtsgewandt, handeln von der Verzweiflung des Lebens. In diesem Album lernt man eine erwachsenere Higuchi, die in ihrem Leben bereits einige Hürden überwunden hat, kennen. Doch die Künstlerin gibt auch zu, dass sich einige Dinge während ihrer Musikkarriere nicht verändert haben: „Ich traue mich mehr als früher, über positive Dinge zu schreiben. Ich mag jetzt ganz oben stehen, doch das kann sich in Zukunft schnell wieder ändern. Ganz gleich, wie glücklich ich mich fühle, ich bin immer jemand geblieben, der an das nächste Unglück denkt. Ich bin der Überzeugung, dass man glücklich sein kann, weil es diese dunklen Zeiten gibt. Wenn ich mich unglücklich fühle, spare ich ein paar Punkte. Und diese Unglückspunkte tausche ich dann eines Tages gegen das große Glück ein!“, offenbart sie lachend.
Auch wenn Akuma no Ko Higuchi Ai als Künstlerin schlagartig große nationale und internationale Aufmerksamkeit einbrachte, bedeute das nicht, dass ihr Leben damit vorbei sei, führt sie aus. Im Gegenteil, es würde noch viele Jahre weitergehen. Higuchi stand vor der Herausforderung herauszufinden, wie sie ihre Musikkarriere von jetzt an fortsetzen soll. Das Lied Daikōkai (大航海, „Große Seefahrt“) ihres aktuellen Albums ist aus dieser Frage heraus entstanden: „Wie kann ich mich dazu bringen, weiter zu singen? Ich kam zu dem Schluss, dass es wichtig ist, das Leben zu bestreiten und etwas tun zu wollen – egal was, auch wenn es nicht das Singen ist. Wenn ich eines Tages damit aufhöre, wäre ich froh, wenn ich einen anderen Weg mit dem Gedanken ‚Ich will etwas Neues machen‘ einschlage und nicht mit ‚Ich will aufhören‘. Ich möchte deshalb empfänglich sein für das Gefühl von Enthusiasmus. Mit nunmehr 34 Jahren scheint es, dass ich dieses Gefühl immer seltener spüre…“ Im Refrain von Daikōkai heißt es:
衝動よ 感動よ
わたしを置いていかないでShōdō yo kandō yo
Watashi wo oiteikanaideDrang, Begeisterung
Lasst mich nicht zurück
Es sind Zeilen, die Higuchis Ais Aufrichtigkeit, ihre Leidenschaft nicht verlieren zu wollen, offenbaren. Wir hoffen, dass wir die Künstlerin auch nach diesem Neuanfang weiter begleiten können.
Profil: Higuchi Ai
Singer-Songwriterin. Geboren 1989 in der Präfektur Kagawa, aufgewachsen in der Präfektur Nagano, derzeit wohnhaft in Tōkyō. Bereits im Alter von zwei Jahren lernte sie Klavierspielen und kam mit einer Vielzahl von Instrumenten und Musikstilen in Berührung. Mit 18 begann sie ihre Karriere als Keyboarderin und gab 2016 mit dem Album Hyakurokujūdo (百六十度, „160 Grad“) ihr großes Debüt. Sie besticht durch ihre klare Alt-Stimmlage, die mit überwältigender Überzeugungskraft während des Klavierspielens zum Ausdruck kommt.
Dieser Artikel erschien in gekürzter Fassung zuerst auf Japanisch in unserem Schwestermagazin Doitsu News Digest (Ausgabe Nr. 1221) und wurde für die Veröffentlichung auf JAPANDIGEST übersetzt und nachbearbeitet.
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