Wer an „traditionelle“ japanische Musik denkt, dem kommen vielleicht Enka-Lieder in den Sinn – kraftvolle Balladen, die mit bewusst zittriger Stimme von Liebe und Heimat schmachten. Tatsächlich entstand dieses für Japan einzigartige Genre erst in den 1950ern, dessen Wurzeln jedoch in der Meiji-Zeit (1868-1912) liegen.
Ursprünglich waren Enka („rednerisches Lied“) Protestreden satirischer oder kritischer Natur. Sie entstanden gegen Ende des 19. Jh., als noch strenge Gesetze zu öffentlichen und vor allem politisch kritischen Ansprachen galten. Um diese zu umgehen, wurde die Regierungskritik einfach gesungen statt gesprochen. Doch mit der Zeit verlor sich die politische Natur des Enka und bewegte sich hin zu persönlichen Themen, die die Menschen von damals bewegten. Die Rolle der Sänger, die enkashi, verlagerte sich vom politischen Kämpfer zu der eines Entertainers. Westliche Musik-Einflüsse sowie die Verwendung von Instrumenten (etwa Violinen oder Lauten) zur musikalischen Untermalung verwandelten Enka langsam in ein Mainstream-Genre. Ab Beginn der Shōwa-Zeit (1926-1989) wandelte sich der Geschmack der Menschen: sogenannte ryūkōka (die die Popmusik der späten 20er bis frühen 60er Jahre beschreiben) wurden die neue Musik der Generation. Diese teilten sich schließlich in zwei Genres auf: Pop und das moderne Enka.
Charakteristika des modernen Enka
Das moderne Enka etablierte sich erst in der Nachkriegszeit: 1955 erschien Kasuga Hachirōs Wakare no ipponsugi – das erste „echte“ Enka-Lied – und markierte die Geburt des neuen Genres. Die Lieder basieren auf der pentatonischen Tonleiter, ähnlich dem Blues, und handeln meist von Sehnsucht, Verlust, Alkohol oder auch Tod. „Herz“ (kokoro), „Traum“ (yume), „Tränen“ (namida) oder „Du“ (anata) gehören zu den am häufigsten auftauchenden Wörtern. Eine idealisierte Liebe zu einer Person oder der Heimat steht dabei oft im Mittelpunkt. Das macht es zu einem sehr sentimentalen, manchmal melancholischen Musikstil. Weiterhin kann man Enka-Lieder am sogenannten kobushi erkennen, eine besondere Gesangstechnik, bei der mehrere Töne auf einer einzigen Silbe unregelmäßig gesungen werden.
Enka, wenngleich man aufgrund seiner relativ jungen Geschichte nicht wirklich von traditioneller Musik sprechen kann, bedient sich stilistischer Elemente eines „traditionellen Japans“: Die Künstler:innen, mehrheitlich Frauen, tragen meist einen Kimono und japanische Instrumente (z.B. die Shamisen-Laute) sind oft Teil der Melodien, neben Synthesizern und Streichinstrumenten, wobei es eine große Vielfalt an Kompositionen gibt.
Blütezeit und berühmte Künstler:innen
Die Blütezeit der japanischen Balladen während der 60er und 70er Jahre brachte zahlreiche prominente Namen hervor, darunter Kitajima Saburō, Kobayashi Sachiko, Mori Shin‘ichi und Ishikawa Sayuri, um nur einige zu nennen. Ishikawas Tsugaru kaikyō fuyugeshiki und Amagigoe gehören zu den einflussreichsten Enka-Liedern aller Zeiten. Als die unangefochtene „Königin des Enka“ gilt jedoch kulturelle Ikone Misora Hibari, die ihre Karriere als Sängerin und Schauspielerin bereits 1949 begann. Zum Lebzeiten nahm sie fast 1.500 Songs auf. Ihre letzte Single, die vor ihrem Tod 1989 erschien, Kawa no nagare no yō ni (1989), gilt auch heute noch als Genre-bezeichnend. In den 60ern etablierte sich im Übrigen auch der Begriff „Enka“ – den man bis dahin kaum mehr verwendet hatte – wieder zur Beschreibung des musikalischen Erbes der einstigen Protestlieder.
Enka heute
Heutztage gilt Enka in der japanischen Jugend als die altmodische „Musik der Älteren“, was aber nicht bedeutet, dass sie bei ihr keinen Anklang findet. Anfang des 21. Jh. erlebte das Genre ein kleines Revival, das durch frische Gesichter und die Verschmelzung klassischer Elemente mit zeitgenössischer Musik einen moderneren Anstrich bekam. Nennenswerte Beispiele sind Fuji Ayako, Hikawa Kiyoshi und Oka Midori, aber auch die Urgesteine Ishikawa Sayuri und Kobayashi Sachiko, die mit über 60 noch immer auf der Bühne stehen. Letztere ist berühmt für ihre pompösen Bühnenshows und lässt seit einiger Zeit zudem japanische Pop- und Otaku-Kultur in ihre Arbeit einfließen. Auch das jährliche Silvester-Musikprogramm Kōhaku Uta Gassen des TV-Senders NHK präsentiert erfolgreiche Künstler:innen der Pop- und Enka-Welt und sorgt so dafür, dass das Genre dem Publikum präsent bleibt.
Obwohl Enka in erster Linie ein japanischer Musikstil ist, haben ihn auch Ausländer für sich entdeckt: Der Inder Sarbjit Singh Chadha oder der US-Amerikaner Jerome „Jero“ White sind zwei nicht-japanische Künstler, die sich in der Szene einen Namen gemacht haben. Hören Sie also ruhig einmal in diese vielfältigen Lieder rein!
Unsere Enka-Liedtipps
Fuji Keiko
Keiko no yume wa yoru hiraku (1970)
[YouTube: Live-Performance von Fuji Keiko]
Kitajima Saburō
Yosaku (1978)
[YouTube: Live-Performance von Kitajima Saburō]
Kobayashi Sachiko
Omoide zake (1979)
[YouTube: Omoide zake]
Ishikawa Sayuri
Amagigoe (1986)
[YouTube: Live-Peformance von Ishikawa Sayuri]
Misora Hibari
Kawa no nagare no yō ni (1989)
[YouTube: Live-Performance von Misora Hibari]
Jero
Umiyuki (2008)
[YouTube: Musikvideo zu “Umiyuki”]
Oka Midori
Asu he no Melody (2021)
[YouTube: Musikvideo zu “Asu he no Melody”]
Fuji Ayako
Yume no manimani (2021)
[YouTube: Yume no manimani]
Dieser Artikel erschien in der JAPANDIGEST April 2022-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
Kommentare