Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Rezension: „Mord auf der Insel Gokumon“ von Yokomizo Seishi

Constanze Thede
Constanze Thede

„Mord auf der Insel Gokumon“ ist das zweite Werk aus der Krimi-Reihe des in Japan gefeierten Autors Yokomizo Seishi um den sympathischen Privatermittler Kindaichi Kōsuke. In diesem Band begibt er sich zur unheimlichen Insel Gokumon, wo ihn schier Unfassbares erwartet.

Coverbild "Mord auf der Insel Gokumon" (Ausschnitt)

Nach „Die rätselhaften Honjin-Morde“ hat Blumenbar mit „Mord auf der Insel Gokumon“ ein weiteres Werk aus der Feder des in Japan als „Meister teuflischer Wendungen“[1] bekannten Krimiautors Yokomizo Seishi auf Deutsch herausgebracht. Dieses ist ebenfalls Teil der Kriminalroman-Reihe um den Privatdetektiv Kindaichi Kōsuke. Schauplatz ist diesmal die fiktive Insel Gokumon, die bereits aufgrund ihres unheimlichen Namens („Höllentor“) nichts Gutes verheißt.

Kindaichi begibt sich in diesem Band kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Insel, um dem dort ansässigen Kito-Clan eine erschütternde Nachricht zu bringen: Sein Kriegskamerad Chimata, der älteste Enkel und Erbe des Clans, ist auf einem Truppentransporter ums Leben gekommen und hat Kindaichi kurz vor seinem Tod gebeten, seine drei Halbschwestern zu beschützen, die in Lebensgefahr seien. Die Familie Kito gehört zu den reichen Fischereiunternehmern und ist der mächtigste Clan in der Umgebung. Weshalb sein Kamerad einen Mordanschlag auf seine Halbschwestern befürchtet hat, ist zunächst unklar, und Kindaichi muss ein Geflecht aus Ahnentreue, Hass und Wahnsinn entwirren, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen…

Gelungenes Setting

Die drei Halbschwestern lernt Kindaichi schon relativ am Anfang der Handlung kennen, ebenso wie die anderen Inselbewohner, die alle ihre speziellen Eigenarten haben. Nicht umsonst bezeichnete der Guardian Yokomizos Krimireihe als „Japans Antwort auf Agatha Christie“, denn der renommierte Autor seziert menschliche Schwächen mindestens so gut wie die Grande Dame der britischen Kriminalliteratur. Yokomizos Buch ist aufgebaut wie ein klassischer Detektivroman, und, wie die Übersetzerin Ursula Gräfe bemerkt, „basiert die Lösung auf detailgenauer Beobachtung und nüchterner Schlussfolgerung. Und alles passt.“[2] Daher bleibt das Werk von der ersten bis zur letzten Seite spannend und man fiebert dem Schluss entgegen, ohne den Fall vorher aufschlüsseln zu können.

Auch die Konstruktion des Settings ist gelungen: Auf einer abgelegenen, ehemaligen Piraten- und Sträflingsinsel mit mürrischen, aber sehr gläubigen Fischern und einem mächtigen Unternehmer-Clan sind drei wunderschöne, aber zur Boshaftigkeit neigende Teenager in Lebensgefahr. Kindaichi, ein sympathischer Privatermittler mit immer etwas zerstrubbelten Haaren, bemüht sich, Licht ins Dunkel zu bringen, stößt dabei aber auf immer mehr Ungereimtheiten und hat zudem als Fremdling auf der Insel keinen leichten Stand. Wir wollen hier nicht verschweigen, dass der Mörder bald das erste Mal zuschlägt… und das Verbrechen ist so grausam inszeniert, dass nicht nur Kindaichi die Fassung verliert.

Der Schatten des Krieges

Die zeitliche Ansiedelung der Handlung kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist ebenfalls von großer Tragweite und der Autor widmet sich mit einem besonderen Scharfblick dieser Zeit. Yokomizo ist eindeutig kein Freund des Krieges, da er gleich zu Beginn bemerkt, dass auch Kindaichi in den Krieg ziehen musste und so „die beste Zeit seines Lebens“ verloren habe (S. 19).

Der vergangene Krieg ist auch prägend für die Erzählung, da die Inselbewohner noch an den Auswirkungen leiden. Besonders sticht ins Auge, dass psychische Erkrankungen oder zumindest auffälliges Verhalten auf der Insel keine Seltenheit zu sein scheinen. Der Vater der drei Halbschwestern ist psychisch so schwer erkrankt, dass er auf dem Familienanwesen in einem Käfig lebt. Doch seine Töchter nehmen keinerlei Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand, sondern spielen mit ihm wie mit einem seltenen Tier, das sie nicht verstehen. Auch andere Familienmitglieder benehmen sich seltsam, wie z. B. Oshiho, die Ehefrau des Oberhauptes der Seitenlinie der Kitos, die zu hysterischen Anfällen neigt. Dies trägt natürlich umso mehr zur grausigen Atmosphäre bei und lässt die meisten Figuren etwas verdächtig erscheinen. Ganz davon abgesehen, dass es einem aus heutiger Perspektive beim Gedanken daran, einen Patienten zuhause in einen Käfig einzusperren, ohnehin kalt den Rücken herunterläuft.

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Einseitige Perspektive

Umso enttäuschender ist, dass außer Kindaichi die meisten Figuren keinen besonderen Tiefgang zu haben scheinen. Zwar sind die einzelnen Charaktere mit all ihren Schwächen und Stärken fein konstruiert, doch bleiben sie jeweils in der ihnen zugeschriebenen Rolle haften. Dass die drei Halbschwestern sich unreif verhalten, ist angesichts ihres Alters (16, 17 und 18) kein Wunder, doch wirkt es unglaubwürdig, dass selbst nach der Ermordung einer ihnen sehr nahestehenden Person keine auch nur die geringste Anteilnahme oder Furcht zeigt. Der örtliche Wachtmeister Shimizu verkörpert wiederum ganz dem Klischee entsprechend den gutmütigen, aber etwas einfältigen Gesetzeshüters, während Kindaichi als Einziger intelligent genug ist, um den Fall zu lösen. Vielleicht liegt es daran, dass das Buch ursprünglich in den 1970er Jahren erschien, dass einem manche Erzählmuster etwas abgenutzt vorkommen.

Die große Stärke des Buches ist die Inszenierung des Verbrechens, bei der auch die klassische Haiku-Dichtung eine Rolle spielt – doch darüber wollen wir hier nicht mehr verraten. In jedem Fall verbindet der Autor auf gelungene Weise wunderschöne Poesie mit grausamen Mordfällen und geht insofern doch in die Tiefe, als er die Motive hinter dem Verbrechen aufschlüsselt, sodass wir als Leser:innen am Ende nachvollziehen können, wie es dazu kommen konnte. Freude bereitet auch die gelungene Übersetzung, die recht nah am Original bleibt, und viele japanische Begriffe unübersetzt lässt, die in einem Glossar erklärt werden.

Fazit

Mit „Mord auf der Insel Gokumon“ bekommen wir ein äußerst spannendes Werk in die Hände, dass uns echtes Knobelvergnügen bietet, und angesichts des grauenvollen Verbrechens und der unheimlichen Atmosphäre auf der Insel, die gekonnt vermittelt wird, nichts für schwache Nerven ist. Besonders Fans klassischer Detektivromane kommen voll auf ihre Kosten und erhalten zusätzlich interessante Einblicke in die japanische Kultur, die durch die Begriffserklärungen auch für Japan-Neulinge aufschlussreich sind. Leichte Schwächen in der Ausarbeitung mancher Charaktere tun durch das gelungene Setting sowie der genialen Inszenierung und Aufschlüsselung des Falls der Lesefreude insgesamt keinen Abbruch. Dazu kommt, dass wir mit Kindaichi einen absolut sympathischen Ermittler bei seiner Arbeit begleiten dürfen. Das Werk kann daher allen Krimi-Fans und Japan-Interessierten nur wärmstens ans Herz gelegt werden.

Mord auf der Insel Gokumon

von Yokomizo Seishi

Erschienen am: 15.08.2023 beim Blumenbar Verlag

Hardcover-Edition mit Klappen, 336 Seiten

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Originaltitel: Gokumontō (獄門島)

Cover "Mord auf der Insel Gokumen"

Zum Autor

Yokomizo Seishi (1902-1981) zählt in Japan zu den populärsten Krimiautoren. Seine im Original 77 Bände umfassende Krimireihe um den Privatermittler Kindaichi macht nur einen Teil seines umfassenden Gesamtwerks aus. Viele seiner Werke wurden verfilmt, darunter auch „Mord auf der Insel Gokumon“. Der in Kōbe geborene Autor übersetzte zeit seines Lebens auch zahlreiche englischsprachige Werke ins Japanische. Seit 1980 ist ihm in Japan ein Literaturpreis gewidmet: Der Yokomizo-Seishi-Preis wird jährlich vom Verlag Kadokawa Shoten und dem Tokyo Broadcasting System an einen noch unveröffentlichten Kriminalroman vergeben.

Porträtfoto Autor Yokomizo Seishi
© Kadokawa

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