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Murata Sayaka: Sich durch das Schreiben von Unterdrückung befreien

Kei Okishima
Kei Okishima

Im Interview mit der Schriftstellerin Murata Sayaka haben wir über ihr neuestes Buch „Das Seidenraupenzimmer“ sowie ihren weltweit erfolgreichen Vorgängerroman „Die Ladenhüterin“ gesprochen.

Murata Sayaka (Autorin)
Die Schriftstellerin Murata Sayaka © Bungeishunju

Ein „Convenience Store“ ist ein kleiner Supermarkt, der von Kunden stets als sehr praktisch bezeichnet wird. Er bietet eine breite Auswahl an Waren, hauptsächlich Lebensmittel, und ist oftmals 24 Stunden geöffnet. Der in diesem Setting spielende Roman „Die Ladenhüterin“ gewann den renommierten japanischen Akutagawa-Literaturpreis. Das Werk zeigt die sonderbaren und einzigartigen Bräuche der Japaner, doch mit welchen Gedanken schrieb die Autorin Murata Sayaka diese Geschichte? 

Die Ladenhüterin (Roman)
Furukura Keiko ist anders als die Leute um sie herum. Doch für die Außenseiterin ändert sich alles, als Shirahara ihr neuer Kollege wird...

Sollte „Die Ladenhüterin“ von Anfang an in einem Convenience Store spielen?

Nein. Obwohl ich selbst in einem solchen Laden gearbeitet habe, fiel es mir dadurch eher schwerer, darüber zu schreiben. Erst habe ich mit völlig anderen Szenarien gespielt, doch damit hatte ich auch Probleme, sodass ich viel herumprobiert habe. Als ich den Charakter der Protagonistin Furukura Keiko endlich ausgearbeitet hatte, schrieb der Text sich wie von selbst. 

In Japan sagen viele, die dieses Buch gelesen haben, sie hätten ihre unterschwelligen Wertvorstellungen erst dadurch erkannt. Was denken Sie darüber?

Statt um Wertvorstellungen geht es vielleicht eher um neue Perspektiven. In meinem Buch gibt es zwei Kameraperspektiven, die der Hauptperson und die der „normalen Menschen“, beide Seiten werden deutlich gemacht. Das hat mich dazu gebracht, auch etwas über mich selbst zu entdecken. 

Dies wird auch im Buch thematisiert, aber warum glauben Sie, dass Menschen Sicherheit darin finden, sich wie ihr Umfeld zu verhalten?

Wahrscheinlich weil sie es halbwegs vorhersehen können. Man sagt, dass sich Menschen sicher fühlen, wenn die Dinge leicht vorstellbar sind und Angst bekommen, wenn sie unvorhersehbar sind. Wenn man eine Geschichte vor Augen hat, die man nachvollziehen kann, fühlt man sich erleichtert.

Zum Beispiel hat Furukura zu Hause keinerlei Schwierigkeiten. Doch wenn das Gegenüber ein Mensch ist, der ein wenig anders ist als man selbst, dann glaubt man sofort, dass diese Person irgendwelche familiären Probleme hat und deshalb so ist, wie sie ist: Die Menschen neigen dazu, sich das so zurechtzulegen, dass es sie beruhigt und sie es nachvollziehen können. Wenn das Gegenüber in der gleichen Umgebung aufgewachsen ist, kann man seine eigene Geschichte auf es beziehen, ohne irgendetwas über diese Person zu wissen, auch das beruhigt. Ich glaube, dass sich die Menschen häufig ihre eigene Version der Vorgeschichte ihres Gegenübers überlegen, damit diese ihrer eigenen ähnelt, auch wenn sie in Wirklichkeit ganz anders ist. Das verschafft ihnen ein Gefühl der Erleichterung.

Im Vergleich zu Europa besteht in Japan ein starkes Harmoniegefühl, doch so wird es auch durchaus unpersönlich. 

Ja, ich selbst finde das sehr interessant. Im Ausland mag das schwer vorstellbar sein, doch in Japan gibt es die Tendenz, im Family Restaurant immer das gleiche zu bestellen. Wenn mehrere Leute Kuchen bestellen, dann bestellt man ihn ebenfalls, auch wenn man vielleicht keinen essen will. Man sagt nicht: „Das möchte ich nicht“, sondern passt sich an und isst mit. Ich sehe das nicht besonders kritisch, aber ich stimme dem auch nicht zu, sondern finde es ganz schlicht interessant. Seit der Grundschule fand ich es immer seltsam, sich auf diese Weise anderen Menschen anzupassen. Ich hielt es für einengend und mühsam. Zu Beginn meiner professionellen Karriere als Schriftstellerin schien es, als würde ich nur über dieses Leid schreiben. Aber mit der Zeit konnte ich das pragmatischer sehen und inzwischen finde ich es sogar interessant. Vielleicht liegt es daran, dass ich jetzt nicht mehr solchen Situationen ausgesetzt bin.

In Convenience Stores sind die Angestellten besonders höflich, doch warum sind Sie so auf diese Höflichkeit fixiert?

Ich denke, für den Arbeitgeber ist es leichter, wenn man sich klar an die Höflichkeitsregeln nach Anleitung hält. Während der Anlernphase schaut man sich z.B. Trainingsvideos und Handbücher an. Befolgt man diese Regeln, sind die Kunden zufrieden. Andernfalls wird sich über die Unhöflichkeit der Angestellten beschwert. Die Angestellten sind wie Verkaufsautomaten, die freundlichen Augenkontakt halten und sich lächelnd mit entschlossener Körperhaltung verbeugen. Das ist so seltsam, dass es wieder komisch ist. 

Was für eine Person waren Sie in Ihrer Kindheit?

Ich war eine sehr ruhige Person, die sich ihrer Umgebung angepasst hat. Im Kindergarten habe ich ständig geweint und verzweifelt die anderen Mädchen nachgeahmt. Wenn man nur ein wenig aus der Gruppe heraussticht, wird man als frech bezeichnet und gemobbt, auch dann, wenn man sehr viel stiller ist als die anderen. Deshalb beobachtete ich stets die Situation und passte mich an. Zu der Zeit fragte ich mich, ob ich überhaupt eine eigene Persönlichkeit hatte. Rückblickend betrachtet fühlte ich mich extrem unterdrückt. Besonders die Unterdrückung als Frau war schmerzvoll. Das Lesen und Schreiben von Geschichten half mir, mein Inneres zu ordnen und Stück für Stück löste ich mich davon. Und heutzutage kann ich Menschen objektiv betrachten und finde sie interessant. 

Wie sieht diese Unterdrückung der Frau aus?

In meiner Kindheit dachte ich, dass das Bild einer idealen Frau, wie sie in Filmen oder Mangas gezeigt wurde, bis zu einem gewissen Grad festgelegt war. Eine Frau, die ihren Mann begrüßt, wenn er von der Arbeit kommt, und in einer Schürze gekleidet leckeres, selbstgemachtes Essen zubereitet. In Japan sagt man, dass ein Mann sich auf den ersten Blick verliebt, wenn er eine Frau ansieht, doch erst wenn man zu einer solchen idealen Frau wird, wird man von einem Mann „erwählt“ und das setzte mich unter Druck. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass man einem Mann „übergeben“ wird und das machte mir Angst. Bis ich die Romane von Matsuura Rieko* las, dachte ich, dass Männer das Entscheidungsrecht in Beziehungen haben, und ich hatte überhaupt kein Gefühl für meinen Körper und mich selbst. Deshalb fühlte ich mich als Frau immer unterdrückt. 

Ihr Buch wurde in dutzende Sprachen übersetzt: Wie empfinden Sie es als Autorin, dass es von Menschen weltweit gelesen wird?

Im Ausland wurde mein Buch als relativ feministisch angesehen. In New York wurde ich gefragt, ob Furukura ein „Firmensklave“ (shachiku) sei, das hat mich überrascht. Auch dort kannte man dieses japanische Wort. Es scheint, als ob die Tatsache, dass Japaner sich so sehr auf der Arbeit anstrengen, als seltsam angesehen wird. Es ist beeindruckend, dass diese Geschichte einer kleinen Supermarktangestellten auf der ganzen Welt übersetzt und gelesen wird. Egal wo ich hinging, ich wurde herzlich begrüßt und konnte mich mehr mit ausländischen Schriftstellern austauschen, das war sehr aufregend. Ich möchte meine eigene Arbeit nochmal aus einem neuen Blickwinkel betrachten. 

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Wenn die „Ladenhüterin“ Furukura in der Geschichte die Gelegenheit bekäme ins Ausland zu reisen, wie würde sich eine Person wie sie verhalten?

Sie ist eine Nachahmerin, also würde sie begreifen, dass sie fröhlich sein muss und das Land mit einer positiven Einstellung betreten. Ihr Charakter selbst würde sich nicht ändern, aber wenn andere das gut finden, ahmt sie diese Einstellung nach. 

Welche Autoren haben Sie besonders beeinflusst?

Die Bücher von Matsuura Rieko* sind etwas Besonderes für mich. In meiner Kindheit war ich ein Fan von Hoshi Shin’ichi. Zu dieser Zeit war ich mir dessen zwar nicht bewusst, aber als ich als Erwachsene meine Romane schrieb, fühlte es sich manchmal an, als würden gleich Außerirdische auftauchen. Ich glaube, dass Hoshi mich auf diese Weise beeinflusst hat, ohne dass ich es merkte. 

Das Seidenraupenzimmer (Roman)
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Worauf möchten Sie in Ihrem Buch „Das Seidenraupenzimmer“, welches im Juni 2020 in Deutschland erscheint, aufmerksam machen?

Es ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte. Die Schwierigkeiten des Lebens waren ein großes Thema für mich, und ich schrieb so lange, bis ich mich von ihnen reingewaschen hatte. Ich kann nicht sagen, ob das Buch für Menschen mit Problemen in ihrem Leben hilfreich wäre, doch es würde mich freuen, wenn sie es lesen würden. 

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Was sind Ihre Ziele für die Zukunft?

Ich schreibe gerade ein völlig anderes Buch, denn ich möchte mich in vielen verschiedenen Genres versuchen. Wenn es fertig ist, möchte ich mich mehr mit dem Realismus befassen. Ich wähle beim Schreiben ganz unbewusst meine Wörter aus und es gibt welche, denen ich nur beim Schreiben begegne. Daher will ich so viele Geschichten wie möglich verfassen.


Murata Sayaka

Geboren 1979 in der Präfektur Chiba. Ihr Debütwerk „Jyunyū“ (2003) wurde mit dem Gunzō-Nachwuchsliteraturpreis ausgezeichnet. „Die Ladenhüterin“ (2016) erhielt den Akutagawa-Literaturpreis. Am 15. Juni 2020 erscheint ihr neuestes Buch „Das Seidenraupenzimmer“ in Deutschland.


*Matsuura Rieko (*1958) ist eine preisgekrönte, japanische Schriftstellerin aus der Präfektur Ehime, die in ihren Büchern häufig die Themen Frauen und Feminismus aufgreift.


Dieser Artikel erschien in  der April-Ausgabe des JAPANDIGEST 2020 und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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