Versuch einer Langzeitwetterprognose: Man hat diverse Daten zur Hand, doch letztendlich ist es ein Ratespiel. Mit dem Literaturnobelpreis ist es ähnlich: Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass 2016 Bob Dylan geehrt worden würde? Oder dass der Literaturnobelpreis im Jahr 2017 zwar an einen Japaner geht – nicht aber an Murakami, sondern an den bereits in seiner Kindheit ausgewanderten Ishiguro Kazuo ? Kaum jemand hatte die beiden auf der Rechnung. Und die Hoffnung, dass Murakami den Nobelpreis erhält, ist mitnichten ein rein japanischer Wunschtraum: Bei den Wettbüros in London stand er 2016 mit 1:4 ganz oben auf der Liste; 2017 war man sich noch sicherer – die Wetten standen bei 2:5 (je nach Wettbüro variieren die Zahlen natürlich etwas). Da jedoch 2017 bereits ein anderer Japaner geehrt wurde, rutschte Murakami nun auf Platz 2 – gegenwärtig stehen die Wetten bei 1:8.
Ein starkes Indiz für die Chancen auf den Hauptgewinn ist der in der Literaturwelt ebenfalls hoch honorierte Franz-Kafka-Preis. Murakami gewann eben jenen Preis im Jahr 2006, nach 27 Jahren künstlerischen Schaffens. Zudem ist Murakami international extrem beliebt – seine Werke wurden in über 50 Sprachen übersetzt, und bei den großen Buchmessen wie zum Beispiel in Frankfurt oder London konnte man sich in den letzten Jahren immer sicher sein, irgendwo eine Murakami-Ecke zu finden. Das war, zumindest bis 2017, bei Ishiguro nicht der Fall.
Über die Ursachen für die ausbleibende Ehrung kann man nur spekulieren, aber schaut man sich die Preisträger der Vergangenheit an, stellt man fest, dass viele Schriftsteller einst für ihre Gesinnung oder ihre Arbeit im Gefängnis saßen oder irgendwie anderweitig unterdrückt wurden. Dass man mit Ishiguro jemanden ehrte, dem ein solcher Hintergrund völlig abkömmlich ist, kann man deshalb schon fast als Ausnahme sehen.
Doch es gibt noch eine andere Parallele zwischen vielen Preisträgern: Die Romanfiguren sind oft Charaktere, die es so eigentlich nicht gibt, da sie überspitzt gezeichnet werden oder auch utopisch, und in dieses Schema passt Ishiguro recht gut. Ganz anders Murakami: Er hatte das Glück, in einer Umgebung aufzuwachsen, in der er seine Meinung frei äußern kann. Und: Seine Romanfiguren sind nahezu ausnahmslos tōshindai – lebensgroß, fast bodenständig – es spricht nichts dagegen, dass sie wirklich existieren. Und genau das zieht auch so viele Leser in den Bann. Geht es nach diversen Literaturkritikern in Japan aber, zieht eben diese Besonderheit nicht das Nobelpreiskommittee in den Bann – dort sucht man eher nach Visionären und/oder den Mutigen. Doch auch das ist nur einer von vielen Erklärungsversuchen. Und wer weiß, vielleicht klappt es ja doch irgendwann – Murakami erfreut sich schließlich bester Gesundheit. Und wie weit er in den vergangenen beiden Jahren vom Nobelpreis entfernt war, wird man leider erst 2066 beziehungsweise 2067 erfahren – die Shortlist der Nobelpreisaspiranten wird nämlich immer erst 50 Jahre später veröffentlicht.
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