Nach dem großen Erdbeben in Ostjapan vor nunmehr 10 Jahren reagierten viele japanische Schriftsteller*innen auf das Ereignis. Ihre Literatur (震災後文学, shinsaigo bungaku, „Katastrophenliteratur“) spielt eine wichtige Rolle dabei, die Erinnerung an die Dreifachkatastrophe wach zu halten und an die Zukunft weiterzugeben. Im Interview mit JAPANDIGEST spricht Kristina Iwata-Weickgenannt, Expertin für moderne japanische Literatur, über diese Katastrophenliteratur aus Japan und gibt Leseempfehlungen.
Was ist „Katastrophenliteratur“ ?
Es hängt davon ab, wie Sie „Literatur“ definieren. Der heutige japanische Literaturbegriff – und damit unser aktuelles Verständnis von Genres (das in Japan und Deutschland durchaus unterschiedlich ist) – ist ein moderner, der erst in der Meiji-Zeit (1868-1912) entstanden und wesentlich durch den damaligen europäischen Literaturbegriff geprägt worden ist. Aber ich möchte Ihre Frage etwas breiter gefasst beantworten, denn das Erzählen an sich ist offenbar eine der wenigen Praktiken, die sich in allen Zeiten und in allen menschlichen Gesellschaften nachweisen lässt. Man spricht nicht umsonst auch von „oral literature“, also mündlichen Überlieferungen. Erzählen bedeutet, sich die Welt zu erklären und sich einen Reim darauf zu machen.
Auch in der soziologischen Katastrophenforschung hat „Erzählen“ eine wichtige Rolle. Man sagt, Ereignisse werden erst durch menschliche Erzählungen (durch „disaster narratives“) zur Katastrophe. Erst dadurch, dass wir bestimmte Dinge als Katastrophe einordnen und entsprechend darüber reden, nehmen wir Ereignisse als katastrophisch war. Der Soziologe Jeffrey Alexander weist Kunst und Kultur dabei einen zentralen Stellenwert zu – er spricht von Ritualen, Reden, Theaterstücken, Filmen und überhaupt „storytelling“ jeglicher Art, die dazu beitragen, bestimmte Ereignisse nicht nur zu verarbeiten, sondern überhaupt erst als Katastrophe wahrzunehmen.
Das „Hojōki“ (deutsch: „Aufzeichnungen aus meiner Hütte“), einer der bekanntesten Texte der mittelalterlichen japanischen Literatur, ist ein frühes Beispiel von Katastrophenliteratur. Darin schreibt der Verfasser, der Einsiedlermönch Kamo no Chōmei (1153-1216), aus Betroffenensicht über Brände, Stürme, große Erdbeben und andere Naturkatastrophen seiner Zeit. Sein Bericht wurde durch die Jahrhunderte überliefert und insbesondere nach 2011 häufig zitiert. In Deutschland wurde der Text nach der Dreifachkatastrophe von 2011 neu herausgegeben.
„Aufzeichnungen aus meiner Hütte“ von Kamo no Chōmei; aus dem Japanischen von Nicola Liscutin, Insel Verlag 2011 (derzeit nur als E-Book)
Wie kamen Sie dazu, sich mit dem Thema „Katastrophenliteratur“ zu beschäftigen?
Das hat vor allem zwei Gründe. Erst einmal habe ich 2011 in Tōkyō gewohnt, die Familie meines Mannes lebt in Sendai. Die persönliche Verbindung war also sehr stark, hat aber ehrlich gesagt auch bedeutet, dass mir das Thema lange viel zu nah war, um eine analytische Distanz zu entwickeln. Da waren manche Kolleg*innen im Ausland schneller.
Abgesehen von der persönlichen Ebene, die natürlich immer mitschwingt, ist die Thematik auch gesellschaftlich von enormer Bedeutung, und zwar in allen Ländern, die selbst AKWs betreiben, das in der Zukunft vorhaben oder in enger Nachbarschaft zu einem Atomstaat liegen. Der Abbau von Fukushima soll mindestens 40 Jahre dauern, aber das kann sich gut noch länger hinziehen, schließlich muss die Technologie, um die geschmolzenen Brennstäbe (bzw. die verspritzte Masse unter den geborstenen Reaktoren) zu bergen, erst noch entwickelt werden. Historiker sagen heute, dass die UdSSR nicht primär wegen der wirtschaftlichen oder militärischen Überlegenheit der USA untergegangen ist, sondern dass die exorbitanten Kosten für die Eindämmung von Tschernobyl dafür verantwortlich waren.
Da Japan ein Land ist, in dem viele Naturkatastrophen auftreten, gibt es seit jeher viele Werke der Katastrophenliteratur. Gibt es ein vergleichbares Genre in Deutschland oder Europa?
Ja, natürlich. Weil es auch in Europa Naturkatastrophen gibt, und weil eindeutig menschengemachte Katastrophen selbstverständlich literarische Reaktionen hervorrufen. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Naturkatastrophe und menschengemachter Katastrophe nicht immer so einfach zu treffen. Denken Sie an den Tsunami von 2011, der doch von sehr vielen Beobachtern als menschengemachte Katastrophe (人災, jinsai) verstanden wurde.
In Deutschland war das Thema „Atomkraft“ schon seit den 1970ern, spätestens jedoch seit Tschernobyl (1986) sehr wichtig. Auch nach dem großen Erdbeben in Ostjapan gab es natürlich spontane Reaktionen aus der deutschsprachigen Literatur. Zum Beispiel hat Elfriede Jelinek, eine österreichische Schriftstellerin, die 2004 den Literaturnobelpreis erhielt, 2011 das Theaterstück „Kein Licht.“ geschrieben, in dem das Atomunglück radikal in einen lokalen Kontext „übersetzt“ wird. Zum Thema Tsunami fällt mir der 2014 erschienene Roman „Der lange Atem“ von Nina Jäckle ein, in dem sie einen Phantombildzeichner porträtiert, der nun Porträts von Ertrunkenen malt.
Das Theaterstück „Kein Licht.“ wurde bereits im September 2011 in Köln uraufgeführt und danach auch häufig in Japan. Video: Trailer für eine Aufführung der japanischen Theatergruppe Chiten (地点) aus Kyōto (japanisch).
Eine auch in Japan gehörte, inzwischen mindestens „halb deutsche“ Stimme ist natürlich die von Tawada Yōko, die ja in beiden Ländern gelesen wird. Ich erinnere mich, dass Tawada 2011 eine der beliebtesten Interviewpartnerinnen deutscher Tageszeitungen zum Thema Fukushima war. Mir gefällt Tawadas „Sendbo-o-te“ (2014), ein in der Zukunft angesiedelter dystopischer Roman, besonders gut, weil er einer der erstaunlich wenigen ist, die über die konkreten Gegebenheiten der Nuklearkatastrophe von Fukushima hinausgehen und eher eine Kapitalismuskritik üben sowie den Leser*innen einen Spiegel vorhalten, was das Thema Fortschrittsglauben angeht.
Warum schreibt man über „Katastrophen“? Was ist Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen Medienberichten und Literatur bei der Aufzeichnung einer Katastrophe?
Nach 2011 wurden so viele wissenschaftliche Daten erhoben wie noch nie. Ziel war es, mit „Big Data“ erstens besser zu verstehen, was eigentlich genau passiert ist, und zweitens die Katastrophenprävention zu verbessern. Das ist natürlich beides legitim, aber der japanische Schriftsteller Shigematsu Kiyoshi hat 2013 etwas sehr Kluges gesagt: „Wenn man vergisst, dass „Groß (big)“ aus der Anhäufung von „unzähligen kleinen“ (Daten) resultiert, kann es leicht vorkommen, dass etwas Wichtiges in der Analyse übersehen wird. (…) Big Data hilft nicht, wenn es darum geht, die Erinnerungen der Toten aufzuspüren. Es kann nicht die Stimmen des Verstorbenen aufnehmen. Aber ist es nicht das, wofür Menschen ihre Fantasie haben?”
Die Analyse wissenschaftlicher Daten zielt darauf ab, „die Fakten zu klären“, und der Zweck des Medienberichtes ist „die Fakten zu melden“. Andererseits kann die Rolle von Literatur, Kunst und Filmen (Dokumentarfilme inklusive) darin bestehen, an menschlicher Emotion, Perspektive und Fantasie zu arbeiten.
Wie kann man jetzt – zehn Jahre nach der Dreifachkatastrophe – Katastrophenliteratur lesen?
Ich glaube, die Dekade an sich ist irrelevant bzw. verleiht den Texten nicht automatisch eine andere Bedeutung. Die Corona-Pandemie tut das aber sehr wohl! Ich habe im Frühjahr und Herbst 2020 an meiner japanischen Universität ein Seminar zum Thema „Katastrophenliteratur“ gegeben. Bei der ersten Gruppe handelte es sich um für kurze Zeit in Japan lebende internationale Studierende, die Anfang März dann ganz plötzlich nach Hause geschickt wurden und dann in ihren Ländern teilweise wochenlang im harten Lockdown waren. In der zweiten Gruppe waren es normale Austausch- bzw. ausländische Studierende, die in den Semesterferien nach Hause gereist waren und dann von der japanischen Regierung nach dem totalen Einreisestopp für alle Ausländer*innen im April 2020 wie Touristen behandelt und nicht zurück ins Land gelassen wurden.
Gerade bei Kawakami Hiromi, aber auch in einigen Kurzgeschichten von Tawada Yōko geht es um Welten, die sich von einem auf den anderen Tag radikal verändert haben. Die Studierenden haben mir gesagt, dass sie diese Texte ohne Corona wahrscheinlich anders gelesen und vielleicht weniger gut hätten nachvollziehen können. Die Corona-Pandemie weckt besonders in Japan starke Erinnerungen an den Umgang mit dem 11. März, insbesondere mit „Fukushima“, und ich denke dadurch, nicht durch die vergangenen zehn Jahre, erhalten die Texte eine ganz neue Aktualität.
Leseempfehlungen der Katastrophenliteratur
Generell wird japanische Literatur seltener ins Deutsche übersetzt als beispielsweise englische, französische oder italienische. Trotzdem möchten wir Ihnen einige Beispiele zeitgenössischer japanischer Katastrophenliteratur vorstellen, die Sie auf Deutsch oder Englisch lesen können.
„Sendbo-o-te“ von Tawada Yōko
Die seit mehr als 30 Jahren in Berlin lebende Autorin Tawada Yōko erzählt die dystopische Geschichte von Yoshiro und seinem Urenkel Mumey. Nach einer Katastrophe hat Japan alle Verbindungen zur Außenwelt gekappt: Fremdsprachen sind verboten und es gibt weder Internet noch Autos. Obwohl die Alten gesund sind und länger leben, werden die Kinder krank und müssen versorgt werden. Mit Tawadas charakteristischen, humorvollen Wortspielen und ihrer klaren Sprache ist die hochpolitische Kritik gut verpackt, die dennoch zum Nachdenken anregt und Lesern neue Perspektiven aufzeigt.
Konkursbuch-Verlag 2018, 200 Seiten
Original: 献灯使 (Kentoshi), Kōdansha 2014
Aus dem Japanischen von Peter Pörtner
„Worte ohne Schutzanzug: Wagō Ryōichi“ von Madlen Beret
6 Tage nach dem Erdbeben beginnt der in Fukushima lebende Lehrer und Dichter Wagō Ryōichi Gedichte auf Twitter zu veröffentlichen. Er beschreibt seine Liebe zu seiner Heimat Fukushima, unerklärliche Wut und Traurigkeit über die Katastrophe, über die Absurdität von Leben und Tod. Mit „Worte ohne Schutzanzug“ liegt nun zum ersten Mal ein zentraler Teil der Arbeiten Wagōs, nämlich das „Notizbuch zur Erdbebenkatastrophe“ mit 35 Gedichten, in deutscher Übersetzung vor.
EB-Verlag 2016, 318 Seiten
Original: ふたたびの春に / 震災ノート 20110311-20120311 (Shinsai nôto), Shodensha 2012
„Der Bärengott 2011“ von Kawakami Hiromi
Die Autorin Kawakami Hiromi reagierte schnell und schrieb ihre bereits 1993 veröffentlichte Geschichte im März/April 2011 um, um sie an die aktuellen Ereignisse anzupassen. Es ist noch immer die herzerwärmende Geschichte einer Ich-Erzählerin, die mit ihrem Nachbarn (einem Bären) spazieren geht, doch nun ist die Umgebung radioaktiv verseucht. Die an sich unsichtbare Radioaktivität lagert sich im Text ab, jeder Satz ist sozusagen verseucht – dadurch wird der Text ein gutes Stück länger als das Original, obwohl doch fast alle Sätze beinahe identisch geblieben sind. Auf Deutsch kann man diese interessante Kurzgeschichte in der Literaturzeitschrift “Neue Rundschau 2012/1 Japan“ lesen.
Original: 神様 2011 (Kamisama 2011), Kôdansha 2011
„Tokyo Ueno Station” von Miri Yū
Aktuell verkauft sich Miri Yūs „Tokyo Ueno Station” besonders gut, da ihr Ende 2020 der amerikanische National Book Award (für übersetzte Literatur) verliehen wurde. Das Buch ist aus der Sicht eines Toten geschrieben – der Erzähler ist der im Ueno-Park gefangene Geist eines 1963 aus Fukushima nach Tōkyō gekommenen Wanderarbeiters, der in seinem Leben nur hart gearbeitet und zum Lebensende jahrelang obdachlos in diesem Park gelebt hat. Anders als die meisten Werke der aktuellen Katastrophenliteratur spielt dieser Roman größtenteils vor den Geschehnissen der Dreifachkatastrophe.
Tilted Axis Press 2019 (Englisch)
Original: JR上野公園駅口 (JR Uenokouen Ekiguchi), Kawadeshobo 2014
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