Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Buchrezension: Wakatake Chisako – „Jeder geht für sich allein“

Manuel Piwko
Manuel Piwko

Man ist nie zu alt, um etwas Neues zu beginnen - das preisgekrönte Erstlingswerk von Wakatake Chisako ist der beste Beweis und findet endlich den Weg zu uns. Den Leser erwartet dabei eine bewegende und einfühlsame Geschichte, welche mitten ins Herz geht.

© Chery Lee / Unsplash

Wakatake Chisako ist bereits Mitte 60 als sie ihren ersten Debütroman „Jeder geht für sich allein“ 2017 in Japan veröffentlicht und feiert dadurch ihren Einstand als Autorin im besten Alter. Der Geschichte, die sie erzählen möchte, kommt dieser Umstand nur zugute. Durch die Augen einer alternden Frau erhält man einzigartige, ehrliche Einblicke in die Geschichte von Momoko in ihren späten Lebensjahren.

Von der Provinz in die Großstadt

Im jungen Alter von 24 Jahren reist Momoko in die Großstadt Tōkyō. Sie lässt dabei ihren Heimatort zurück, passt sich den Gegebenheiten an, die sich stark von denen ihres Geburtsortes unterscheiden. Sie verliebt sich, bekommt Kinder und um den gesellschaftlichen Vorgaben einen Feinschliff zu verpassen, zwingt sie sich dazu, ihren gebürtigen Dialekt abzutrainieren. Sie schlüpft in die Rolle einer Hausfrau und in ein neues Leben, in dem sie das, was sie ausmacht und als ihre Heimat bezeichnet, leugnet und ins Unterbewusstsein schickt. Viele Jahre später blickt Momoko auf ein langes Leben zurück. Ihr Mann ist verstorben und sie besinnt sich auf ihre Wurzeln. Damit einhergehend kehrt ihr längst vergessener Dialekt zurück, der sich in zahlreichen, ausschließlich im Kopf stattfindenden Dialogen bemerkbar macht. Leichtfüßig und unaufgeregt erzählt die Autorin dabei nicht nur von der Wehmut auf das zurückliegende Leben, sondern auch auf den Folgen des Alterns: Der Auseinandersetzung mit dem Tod, aber auch dem körperlichen und geistigen Verfall des Ichs.

Japan menschenRegionale Charaktere: Was Japaner über Japaner denkenJapans Regionen unterscheiden sich nicht nur sprachlich voneinander: Lernen Sie mit JAPANDIGEST die regionalen Charaktere und lokalen Dialek...18.05.2017

Der japanische Dialekt als übersetzerischer Kunstakt

Auffällig ist beim Lesen die konsequente Übersetzung des Dialekts in eine deutsche Variante. Dafür wurde bei der Übersetzung als sprachliches Mittel das Vogtländische genutzt und ausnahmslos verwendet, um Momokos japanischen Dialekt widerzuspiegeln. Zu Beginn mag man als Leser über diese Dialogzeilen stolpern, die nicht nur vereinzelt, sondern auch zunehmend gehäuft auftreten. Doch mit der notwenigen Konzentration gewöhnt man sich schnell an dieses Stilmittel und weiß dieses auch zu schätzen. Es macht Sinn, in der hiesigen Übersetzung auch einen ungewöhnlichen, fremdartig zu lesenden, deutschen Dialekt zu verwenden. Dadurch kann man sich nicht nur in die Gefühlswelt von Momoko hineinversetzen, sondern erahnt auch den Grund für die Rückkehr zu ihrem Heimatdialekt.

Viele Parallelen der 74-jährigen Protagonistin stimmen mit dem Leben der Autorin überein und geben dadurch dem Leser das Gefühl, dass hier durch den Deckmantel einer erfundenen Geschichte zumindest kleinere, autobiographische Einblicke gewährt werden. Wakatake Chisako ist ebenso wie ihre Romanfigur Momoko in einer nordostjapanischen Provinz (in Tōno, Präfektur Iwate) geboren worden und lebte für einen Großteil ihres Lebens mit ihrem Mann in Tōkyō. Als dieser verstarb, besuchte sie einen Kurs für Kreatives Schreiben: Das Ergebnis ist „Jeder geht für sich allein“, welches 2017 mit dem renommierten japanischen Akutagawa-Preis, einem der gefragtesten Literaturpreise Japans, ausgezeichnet wurde. Auch eine Filmadaption ist im November 2020 unter dem gleichnamigen japanischen Titel Ora ora de hitori igu mo erschienen.

Fazit

„Jeder geht für sich allein“ von Wakatake Chisako ist ein berührender Roman über eine ältere Frau, die sich mit ihrem eigenen Leben auseinandersetzt. Mit einer eindringlichen Melancholie berichtet der Roman vom Leben, der Heimat und der Liebe, aber auch gesellschaftlichen Zwängen, Stigmata und Tod. Ein Kleinod, welches kunstvoll übersetzt nichts von der Intensität des Originals einbüßt.

Buchcover Wakatake Chicago "Jeder geht für sich allein"

Wakatake Chisako – Jeder geht für sich allein

Originaltitel: Ora ora de hitori igu mo

Aus dem Japanischen von Jürgen Stalph

Erschienen: 15.02.2021 (cass Verlag)

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