Die Geschichte der Bilderbücher in Japan reicht bis zu den Bildrollen (sogenannten emaki) aus dem 8. Jahrhundert zurück. In der Muromachi-Zeit (1336-1573) wurden sie in Form illustrierter Büchlein veröffentlicht, doch da jedes einzelne per Hand gefertigt wurde, hatten nur Wohlhabende Zugang zu ihnen. Erst ab dem späten 17. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Holzschnittkunst, konnte auch die einfache Bevölkerung solche illustrierte Literatur erwerben, etwa die vergleichsweise günstigen kusazōshi-Holzschnitte.
Entstehung der Kinderliteratur
Iwaya Sazanami (1870-1933) gilt als der Pionier der japanischen Kinderliteratur. 1891 erschien das erste Werk seiner Buchreihe Shōnen Bungaku, die sich bei Kindern großer Beliebtheit erfreute und den Grundstein für die Entwicklung der Kinderliteratur bildete. Vor allem drei Faktoren trugen zum Erfolg der Buchreihe bei: die Verbreitung des Buchdrucks, die Modernisierungsmaßnahmen Japans (die zu einem allgemeinen Zeitschriftenboom führten), sowie Reformen in der Bildungspolitik.
Mit dem Einsetzen der Meiji-Zeit 1868 wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, um das japanische Bildungssystem dem Westen anzugleichen. In der bis dahin vorherrschenden feudalen Gesellschaft wurden Kinder von klein auf mit dem Ziel erzogen, den Beruf ihrer Eltern zu ergreifen. So wurde von Kindern aus Samurai-Familien erwartet, dass sie so schnell wie möglich Beamte wurden, während sie in Bauernfamilien schon früh auf den Feldern mithalfen und das Handwerk erlernten. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht durften nun alle unabhängig von ihrer sozialen Herkunft ihren Status als „Schulkinder“ genießen und somit war auch die Geburtsstunde der Kinderliteratur gekommen.
Im 20. Jahrhundert begann man, Spontanität und Individualität von Kindern verstärkt zu fördern. Im Rahmen dessen wurde 1918 die Zeitschrift Akai Tori („Roter Vogel“) von Suzuki Miekichi gegründet, die besonders Kindermärchen und -lieder enthielt. Sie ist auch berühmt für die Veröffentlichung der Werke Akutagawa Ryūnosukes, einem der berühmtesten japanischen Schriftsteller, sowie des Lyrikers Kitahara Hakushū. Schließlich brach der langandauernde Zweite Weltkrieg ein und der Staat erließ Richtlinien für die „Verbesserung der Kinderliteratur“, welche Sprache und Inhalt regulierten und gleichschalteten.
Die goldene Ära der Kinderbücher
Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg, wurden viele Bereiche des öffentlichen Lebens wiederum durch die Alliierten streng kontrolliert und zensiert. Außerdem hatte der Krieg Spuren hinterlassen. Während vor dem Krieg die meisten Kinderbücher einem pädagogischen Anspruch folgten, schrieb die Kinderbuchautorin Ishii Momoko vor allem Werke, die die Kinder in dieser Umbruchsphase emotional ansprechen sollten. Sie war weiterhin maßgeblich an der Herausgabe der Kinderbuchreihe Iwanami no Kodomo no hon („Iwanami-Bücher für Kinder“) des japanischen Traditionsverlages Iwanami Shoten beteiligt und übersetzte auch viele ausländische Kinderbücher, darunter „Pu der Bär“. 1956 folgte sie dem Beispiel von Iwanami Shoten und rief die zunächst monatlich beim Verlag Fukuinkan Shoten als Zeitschrift erscheinende Kinderbuchreihe Kodomo no Tomo ins Leben. Unten ist die Ausgabe vom 1. April 1956 zu sehen. Beliebte Geschichten der Reihe wurden später in Buchform veröffentlicht.
Die Reihe löste in den 1960er und 70er-Jahren einen regelrechten Boom der Kinderbücher aus. Nach einer Statistik aus dem Jahre 2020 erreichte das 1967 dort erschienene Kinderbuch Guri to Gura („Guri und Gura“) eine Gesamtauflage von 5,3 Millionen Exemplaren und gilt damit als das zweiterfolgreichste japanische Kinderbuch aller Zeiten. Die Nummer 1 Inai Inai Baa! („Kuckuck!“)* hat sich übrigens mehr als sieben Millionen Mal verkauft.
Spiegel des Zeitgeistes
In den 1980er Jahren durchlief die japanische Gesellschaft große Veränderungen. Die sog. Bubble Economy läutete das Zeitalter des Massenkonsums ein und die Kernfamilie wurde zum Standard. Vor diesem Hintergrund wurde Iwamura Kazuos Buchreihe 14 Hiki, die von einer großen Mäusefamilie handelt, die mit der Natur in Einklang lebt, sehr populär. Das Buch 14 Hiki no Hikkoshi („14 Mäuse ziehen um“) ist ein besonders geschätztes Werk der Reihe.
In den 2000er Jahren wurde das Projekt „Lesejahr für Kinder“ ins Leben gerufen, um die Leseaktivitäten für Kinder auf nationaler Ebene zu fördern – und das Geschichtenerzählen erlebte einen erneuten Boom. Durch die vielen Opfer des großen Erdbebens in Ostjapan im Jahr 2011 erlangten Kinderbücher noch einmal eine neue Bedeutung. Viele Autor:innen sind der Meinung, dass dank dieser Kindern leichter Werte vermittelt oder schwierige Themen wie Leben und Tod zugänglich gemacht werden können. Ein Beispiel ist das Werk Inochi no Fune („Das Lebensboot“), das sich in sanfter Symbolik mit den Themen Leben, Tod und Wiedergeburt befasst.
Darüber hinaus wird der Ruf nach Diversität immer lauter, z. B. nach Werken, die sexuelle Minderheiten, Menschen mit Behinderungen oder neue gesellschaftliche Werte wie Nachhaltigkeit aufgreifen. Kinderbücher sind, wie auch andere Kunstwerke, Spiegel der Werte und Atmosphäre ihrer Zeit. Die Geschichte japanischer Kinderbücher hat gezeigt, dass die Anforderungen an sie stets im Wandel sind. Es wird interessant sein zu sehen, wie sie sich in Zukunft entwickeln werden.
Quellen
国立国会図書館 国際子ども図書館、河原和枝「子ども観の近代 『赤い鳥』と 『童心 』の理想」中央公論新社
*Inai Inai Baa! (im Deutschen als „Kuckucks-/Guck-Guck-Spiel“ bezeichnet) ist ein Spiel mit Babys und Kleinkindern, bei man sich die Augen zuhält und „inai inai“ („Ich bin nicht da!“ bzw. „Wo bin ich?“) ruft und dann mit dem Ausruf „Baa!“ („Kuckuck!“ /„Guck guck!“) die Hände wieder wegnimmt. Da für Kinder bis zum 18. Lebensmonat Objekte oder Personen außerhalb des Sichtfeldes quasi aufhören zu existieren, ist die Freude um so größer, wenn die- oder derjenige hinter den Händen wieder auftaucht.
Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der JAPANDIGEST April 2023-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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