Chihiro und Chiaki stehen auf dem Scherbenhaufen ihrer Beziehung, als sie noch eine letzte Nacht in ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung verbringen, um ein klärendes Gespräch zu führen, bevor sie endgültig getrennte Wege gehen. Der Tod ihres Bergführers bei einer gemeinsamen Wanderung hat ihr Vertrauen ineinander vollständig erschüttert. Da sie beide zum Zeitpunkt des Todes an unterschiedlichen Orten waren, bezichtigen sie sich gegenseitig des Mordes. In der leeren Wohnung können sie den vielen Zweifeln und Fragen, die sich im Laufe der Zeit in ihnen angestaut haben, nicht mehr ausweichen. Die laue Frühsommernacht bildet dabei eine oberflächlich schöne Kulisse, unter der eine Welt von Gefühlen schwelt. In Rückblenden wird behutsam rekonstruiert, was damals bei der Bergwanderung geschehen sein könnte.
Nichts ist absolut
Chihiro und Chiaki beäugen sich dabei gegenseitig, teils liebevoll, teils misstrauisch, teils voller Hass und Bitterkeit. Da abwechselnd aus seiner (Chihiros) und ihrer (Chiakis) Sicht erzählt wird, erfahren wir, wie beide die jeweilige Situation wahrnehmen, doch sind ihre Erinnerungen lückenhaft und das gegenseitige Misstrauen lässt uns ebenfalls misstrauisch werden. Können die beiden ihre Gefühle unter Kontrolle behalten, oder wird die Nacht mit einem weiteren Mord enden? Chihiro hat längst eine neue Freundin, die ihm eine scheinbar unbescholtene Zukunft bietet, die er mit Chiaki nicht haben kann. Dennoch fühlt sich ein Teil von ihm immer noch zu Chiaki hingezogen, die zwischen Lebensmut und Todessehnsucht schwankt:
»Wollen wir zusammen sterben?«, schlägt sie vor. Ein Schauer durchfährt mich. Weil ihr Lächeln in diesem Moment unglaublich sinnlich und schön ist. Und weil ich glücklich über ihren Vorschlag bin. (S. 210)
So spitzt sich die Lage im Laufe der Erzählung immer mehr zu und teilweise fällt es schwer, den Hauptfiguren zu folgen, die zwischen widersprüchlichen Gefühlszuständen hin und her schwanken. Wie Prof. Dr. Lisette Gebhart, Japanologin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, schreibt, steht der japanische Originaltitel Komorebi ni oyogu sakana für „die geheimnisvolle Atmosphäre eines von Bäumen gesäumten Teichs: Sonnenlicht bricht durch die Blätter und lässt das Wasser funkeln. ,Geheimnis‘ ist der Schlüsselbegriff für Ondas Roman.“ [1]. Tatsächlich ist das Sonnenlicht ein wiederkehrendes Motiv, doch erst am Ende klärt sich die vollständige Bedeutung des Titels im Romankontext auf.
Bildgewaltiges Drama
Onda bedient sich einer bildgewaltigen Sprache, die den Leser direkt hineinzieht in diese leere Wohnung und die erstickende Atmosphäre, die zwischen zwei Menschen herrscht, deren Leben scheinbar außer Kontrolle geraten ist. Die Autorin beherrscht es meisterhaft, ihre Leser:innen aufs Glatteis zu führen und zu überraschen, indem sie nie zu viel verrät und wichtige Hintergrundinformationen wie Brotkrumen erst nach und nach ausstreut. Wie die beiden Hauptfiguren einander umkreisen und versuchen, sich gegenseitig aus der Reserve zu locken, erinnert an ein Bühnendrama und tatsächlich war Ondas Werk als Theaterstück in Japan bereits sehr erfolgreich. Da als Schauplatz der Handlung schlicht die gemeinsame Wohnung dient, entwickelt die Situation eine Eigendynamik, und der Kontrast zwischen den leeren Räumen und dem aufgewühlten Innenleben der Figuren entfaltet eine besonders eindrucksvolle Wirkung.
Geschickt führt Onda uns durch das emotionale Wechselbad der Figuren und seziert dabei die menschliche Psyche und das Erinnerungsvermögen, das so leicht beeinflussbar, so unzuverlässig sein kann. Dabei geht es auch um die großen Fragen, wie darum, was Liebe ist und was der Tod bedeutet. Bis zuletzt hält sie uns in ihrem erzählerischen Bann und lässt schließlich Raum für Interpretationen, um zu einem gelungenen Abschluss zu gelangen.
Fazit
Ondas Werk ist keine leichte Kost, liest sich aber aufgrund der poetischen Sprache unglaublich schön, ist dabei extrem fesselnd und psychologisch geschickt konstruiert. In diesem Roman gibt es keine einfachen Antworten und nicht nur eine Wahrheit. Gerade deshalb wirkt alles geradezu erschreckend wirklichkeitsnah und die konsequent durchgeführte Ich-Perspektive führt mitunter unerträglich nah an das Innenleben der Hauptfiguren heran. Onda ist hier ein großer Wurf gelungen, der nach Abschluss der Lektüre noch lange nachhallt.
Onda, Riku: „Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen“
Roman
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium Verlag
Erschienen am: 16. Februar 2023
Die Autorin
Onda Riku wurde 1964 in der Präfektur Miyagi geboren. 1992 erschien ihr Debütwerk Rokubanme no Sayoko, das in Japan als TV-Serie verfilmt wurde. In ihrem Heimatland hat sie zahlreiche Literaturpreise gewonnen, darunter den Yoshikawa Eiji Prize for New Writers, den Yamamoto Shūgorō Prize sowie den Naoki Prize. Auf Deutsch erschien bisher ihr Kriminalroman „Die Aosawa-Morde“ (2022), der sowohl auf der „Krimibestenliste des Jahres 2022“ als auch beim Deutschen Krimipreis (in der Kategorie „International“) den ersten Platz erreichte.
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