Für die 15. Edition der Documenta wurde das indonesische Kunstkollektiv ruangrupa als künstlerische Leitung ausgewählt. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Documenta, dass diese Aufgabe eine aus Asien stammende Gruppe übernimmt. Das Festival hat durch seine beispiellose Präsentationsform Aufmerksamkeit erregt, zu dem 67 Künstler:innen und Kollektive vor allem aus dem Globalen Süden, also aus Entwicklungs- und Schwellenländer, eingeladen werden. Viele Künstlerinnen und Künstler bleiben für längere Zeit in Kassel, nicht nur um ihre Werke auszustellen, sondern auch um Vorträge und Performances zu halten, den Veranstaltungsgarten zu pflegen, Dinnerpartys zu veranstalten oder Karaoke-Abende zu organisieren.
CINEMA CARAVAN & Takashi Kuribayashi, die einzigen japanischen Teilnehmer der Documenta 15, präsentieren in Kassel mobile Filmvorführungen, DJ-Events, Bars und sogar eine Sauna mit heimischen Kräutern. Tatsächlich begann ihr Weg zur Documenta 15 jedoch schon vor langer Zeit.
Rai Shizuno|CINEMA CARAVAN
Fotograf, Leiter von CINEMA CARAVAN. Mit dem Konzept des “Spiel mit der Erde” haben sie mobile Kinoprojekte mit Fotografen, Musikern, Handwerkern und Köchen an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt durchgeführt, darunter auch an ihrem Heimatstandort “Zushi Beach Film Festival”: https://cinema-caravan.com
Takashi Kuribayashi
Nach seinem Abschluss an einer Kunsthochschule in Japan lebte er 12 Jahre in Kassel und Düsseldorf. Er hat zahlreiche großräumige Installationen zum Thema “Grenzen” geschaffen und arbeitet seit 2005 in Zushi, Japan, und seit 2013 in Indonesien: www.takashikuribayashi.com
Auf dem Weg zur Documenta 15
Rai Shizuno von CINEMA CARAVAN und Takashi Kuribayashi trafen sich 2007, als sie Rokkasho-mura, ein Dorf in der Präfektur Aomori, besuchten, wo sich eine Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe befindet. Ihre zweiwöchige Reise dorthin sei der Ausgangspunkt für ihre diesjährige Teilnahme an der Documenta gewesen, so die zwei.
Shizuno: Ein paar meiner Surfer-Freunde aus Zushi und ich, die vom Meer und der lokalen Natur leben, sorgten uns wegen des kontaminierten Wassers, das aus Rokkasho-mura stammt. Um mit eigenen Augen zu sehen, was in der Wiederaufbereitungsanlage passiert, fuhren wir nach Aomori, und hielten an jedem Stopp Vorführungen und Vorträge. Takashi war seit etwa einem Jahr aus Deutschland zurück, und hat an dieser Reise teilgenommen. So haben wir uns kennengelernt.
Später gründete Shizuno mit seinen Freunden CINEMA CARAVAN, während Kuribayashi ebenfalls seine künstlerische Tätigkeit fortsetzte. Im Jahr 2013 beschloss Kuribayashi, in Indonesien zu leben, wo er ruangrupa, die künstlerische Leitung der Documenta 15, traf. Ruangrupa, das durch seine Projekte mit der lokalen indonesischen Gemeinde in Verbindung steht, hatte viele Berührungspunkte mit den Aktivitäten von CINEMA CARAVAN. Auch Shizuno reiste mithilfe von Kuribayashi nach Indonesien und lud umgekehrt ein indonesisches Team nach Zushi ein.
Kuribayashi: Während der Corona-Pandemie habe ich gehört, dass ruangrupa als künstlerische Leitung der Documenta 15 ausgewählt worden war. In der Zeit, in der die westlich-zentrische Kunst und das kapitalistische Denken zum Stillstand gekommen waren, fühlte ich mich sehr stolz und ergriffen, dass ein asiatisches Kollektiv wie ruangrupa ausgewählt wurde und nicht jemand aus der „Mitte“ der Kunstwelt. Ich habe mit Shizuno darüber gesprochen, und sagte: “Lass uns nach Kassel gehen, um ruangrupa zu unterstützen!”. Dann, etwa zwei Jahre später, wurde ich direkt von einem Mitglied von ruangrupa kontaktiert und zur Documenta 15 eingeladen.
“Mobil” und “Moskitonetz”
Daraufhin wurde ihre Teilnahme an der Documenta 15 bestätigt. Shizuno und Kuribayashi verbrachten einige Zeit in Kassel, um das Konzept ihrer Werke auszuarbeiten, aber es war schwierig, einen geeigneten Ort zu finden, um sie auszustellen. So kamen sie auf die Idee, ihr Projekt “mobil” zu machen, so wie sie es bereits in der Vergangenheit getan hatten.
Kuribayashi: Wenn es mobil sein soll, muss es so leicht wie möglich gemacht werden. Da kam ich auf die Idee, ein ‘Moskitonetz’ zu verwenden. Der japanische Ausdruck kaya no soto (“außerhalb des Moskitonetzes”) bedeutet etwa “nicht Teil einer Gruppe von Menschen” zu sein. Es ist ein Ausdruck, der nicht nur in Japan, sondern auch in anderen asiatischen Ländern existiert.
Menschen wie ruangrupa, von denen man dachte, sie befänden sich “außerhalb des Moskitonetzes” der Kunstwelt, sind jetzt als künstlerische Leiter “innerhalb” dieses Netzes. Auch wir waren “außerhalb des Moskitonetzes”, als wir nach Deutschland kamen. Nach ruangrupa’s Motto “No Art Make Friends” haben wir beschlossen, neue Freunde zu finden, indem wir unsere eigenen “Moskitonetze” aufstellen und immer mehr Menschen von ‘außerhalb’ darin willkommen heißen.
Als die Künstlergruppe etwa einen Monat vor der Eröffnung in Kassel ankam, hatte sie noch Schwierigkeiten, sich für einen Ausstellungsort zu entscheiden sowie einen passenden Arbeitsraum, Materialien und Werkzeuge zu besorgen. Ein kleines “Missgeschick” passierte ihnen dann auch noch, als sie eine Lebensmittelvergiftung bekamen und drei Tage flach lagen… Was die Männer in dieser Notsituation rettete, war eine Freundschaft, die Kuribayashi zuvor in Deutschland geknüpft hatte.
Kuribayashi: Der Ausstellungsleiter der Documenta 15 war zu meiner Überraschung ein ehemaliger Kommilitone aus der Kunstschule in Kassel. Ich habe mich sehr gefreut, ihn nach 28 Jahren wiederzusehen. Als wir ihm von unserer damaligen Situation erzählten, arrangierte er alles, was wir für unsere Produktion benötigten. Das war wirklich hilfreich!
Shizuno: Durch dieses Erlebnis habe ich sehr deutlich gespürt, dass unsere vergangenen Aktivitäten, die Geschichten unserer kleinen Kollektive in Deutschland, Japan und Indonesien, uns zusammengeführt und miteinander verbunden haben. Es scheint, dass die verschiedenen Verbindungen der Vergangenheit uns den Weg zeigten, um zu diesem Punkt zu gelangen.
Eine “Oase” des Genusses
Am Eröffnungstag wurde im Staatspark Karlsaue ein angenehmer Raum mit einer Freiluft-Kräutersauna namens “Genkiro” sowie eine Bar mit DJ eröffnet, die mit dünnen Moskitonetzen verkleidet wurden. Zum Abend hin gingen die Lichter an und Künstler:innen sowie Spaziergänger:innen und Besucher:innen aus verschiedenen Ländern versammelten sich im Park. Es wurden Musik und Filme gespielt, und die Menschen kamen ganz natürlich miteinander in Austausch, sogar in der Sauna, in der sich Fremde miteinander locker unterhielten. Ein Raum voller zauberhafter Energie, der plötzlich in der Stadt Kassel erscheint. Die Menschen, die dort lachen, reden und sich ausruhen, fühlen sich wie in einer Oase nach einer langen Reise.
Kuribayashi: Ein paar Tage nach der Eröffnung bekamen wir eine Vorstellung davon, welche Rolle wir bei dieser Documenta 15 spielen sollen. Diese lautet “nicht zu ernst zu sein” (lacht). Auf der Documenta gibt es viele Kunstwerke, die eine politische Botschaft haben und die Besucher:innen zum Nachdenken anregen. Das ist wichtig, aber ich denke, dass es auch wichtig ist, einen Ort zu haben, an dem die Menschen solche Dinge für eine Weile vergessen und lachen, reden und sich selbst von ganzem Herzen spüren können.
Shizuno: Das stimmt. Je stärker die Botschaft der Documenta wird, desto wichtiger wird unsere Position. Seit der Eröffnung haben wir das Gefühl, dass nicht nur wir uns in unserem Ausstellungsraum wohlfühlen können, sondern er auch zu einem notwendigen Ort für die Veranstaltung geworden ist.
Das Projekt ist mobil, daher startete es zunächst im Staatspark Karlsaue und zog dann weiter zum Friedrichsplatz. Wie wird es weitergehen?
Kuribayashi: Wir werden darüber nachdenken, wohin es als Nächstes geht, wenn die aktuelle Ausstellung vorbei ist. Viele, die unser Werk besucht haben, sagten, sie hätten das Gerücht über “eine tolle Sauna im CINEMA CARAVAN” gehört. Doch plötzlich war der Ort verlassen und nichts war mehr da. “Ist es vorbei?”, “Was war das denn genau?”, fragten sich unsere Besucher:innen. Alle warten gespannt darauf, wohin wir als nächstes gehen werden. Gerade das macht es interessant!
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