Ein durchdringender Klang hallt von den Berghängen wider und kommt näher und näher, und dann sieht man sie kommen. Eine Gruppe von Männern bewegt sich im Gänsemarsch langsam voran. Gekleidet in ein Kostüm, das aus einem weißen Baumwollhemd und einem Hosenrock besteht, erscheinen sie wie helle Punkte auf einer Kette aufgereiht, die sich in der unendlichen Weite der grünen Berglandschaft fast verliert. Ihre Füße stecken in weißen Tabi, auf der Stirn ruht eine kleine schwarze Kappe und auf dem Rücken der Strohhut. Um die Hüften tragen sie ein Fell und ein Seil, eine Stola mit farbigen Bommeln hängt um ihren Hals. Der eine oder andere bläst in ein Muschelhorn, und es ist dieser Ton, der über die Gipfel hinweg schallt und wilde Tiere und Wanderer zugleich aufhören lässt.
Mit Pilgerstab in der rechten Hand und Gebetskette in der linken bahnen sie sich den Weg durch das unwegsame Gelände. Sie sind die Yamabushi, die Anhänger des Shugendō, einer 1.400 Jahre alten spirituellen Tradition, die sich ins 21. Jahrhundert gerettet hat.
Der moderne Yamabushi
Wörtlich bedeutet Shugendō (修験道) „der Weg des Trainierens und Testens“. Es enthält Lehren und Praktiken des Shintōismus, Buddhismus, Daoismus und Schamanismus. Die verschiedenen Elemente, wie Gottheiten, Gebete und Rituale, verschmolzen miteinander und bilden nun einen synkretistischen Mix, der sich kaum noch auseinander dividieren lässt. Was Shugendō jedoch unterscheidet, ist das Praktizieren draußen, inmitten der Natur.
Die Anhänger, die Shugenja (修験者), werden im Volksmund oft als Yamabushi (山伏) bezeichnet, „die in den Bergen übernachten“. Jedoch leben die heutigen Yamabushi nicht mehr wie einst in Einsiedeleien oder sogar in Höhlen in den Bergen, sondern ganz normal in Häusern, oft auch in der Stadt und mit Familie. Manche sind buddhistische Mönche oder Shintō-Priester von Beruf und unterhalten ihren eigenen Tempel oder Schrein. Die meisten jedoch sind Arbeiter, Angestellte, Freischaffende oder auch Firmeninhaber mit sehr weltlichen Tagesabläufen, die als Laien am Wochenende praktizieren. Es sind viele Renter und sehr wenig junge Leute dabei.
Viele nehmen nur einmal im Jahr an einem Bergtraining teil, welches oft nur noch wenige Tage dauert. Diese Wanderungen finden meist in Gruppen statt, werden gewöhnlich organisiert und von einem Sendatsu, einem erfahrenen Shugenja, geführt. Die Gruppen können 20, 50 oder mehr Personen stark sein.
Strapazen in den Bergen
Damals wie heute sind die Wanderungen zu den heiligen Stätten in den Bergen und das Beten an diesen Orten das Kernstück des Trainings. Oft hinterlassen Shugendō-Gruppen dort hide, hölzerne Gedenktafeln, als eine Art Visitenkarte.
Das unendliche Bergauf und Bergab verlangt viel Kraft, dennoch singen die Shugenja beim steilen Aufstieg: Zange, Zange, Rokkon Shojo. Das ist ein Wechselgesang, den der Führer vorsingt und die anderen Teilnehmer nachsingen. Er hat das Bekenntnis von Fehlverhalten und eine Reinigung der sechs Sinne zum Inhalt, und ist Atemtraining und Ansporn zum Durchhalten zugleich. Die Nahrung ist reduziert, man kann sich nicht waschen und übernachtet wird in abgelegenen Hütten in den Bergen ganz ohne Komfort. Die modernen Yamabushi üben für ein paar Tage Enthaltsamkeit, um ihre Bequemlichkeit und Ängste zu überwinden.
Sie sind jedoch nicht nur zum Wandern hier, sondern rituelle Reinigungen unter Wasserfällen, Mutproben an steilen Felsen, Fasten, Meditations- und Gebetsrituale sowie das Rezitieren von Mantras und Sutras stehen ebenfalls auf der Tagesordnung. Spektakulär für Beobachter sind die Feuerrituale der Yamabushi, die oft unter freiem Himmel stattfinden, und das anschließende Laufen über verglühte Holzscheite.
Verboten und wiederbelebt
Als Ur-Vater des Shugendō wird ein Mann namens En-no-gyōja benannt. Er soll im 7. Jahrhundert in den Bergen der Kii-Halbinsel gelebt haben und er hatte den Ruf, ein Heilkundiger und Magier mit übernatürlichen Kräften zu sein.
Shugendō wurde 1872 von der Regierung offiziell verboten, da es als rückständig und abergläubisch galt und daher nicht geeignet schien für die Entwicklung eines modernen Japans. Die Shugenja waren gezwungen, ihre Aktivitäten einzustellen, doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Beschränkungen aufgehoben und es konnte wieder öffentlich praktiziert werden.
Seit den 1980er Jahren hat Shugendō einen erneuten Aufschwung erlebt. Gegenwärtig aktive Shugendō-Zentren sind, unter anderem, Yoshino und Kumano (Präfektur Wakayama), Dewa Sanzan (Präfektur Yamagata) und Nikkō (Präfektur Tochigi). Bekannte Shugendō-Tempel sind der Shōgo-in Tempel und der Daigo-ji-Tempel in Kyōto. Die genaue Zahl der Shugendō-Anhänger ist nicht bekannt, aber man nimmt an, dass es nur einige Hundert im ganzen Land sind.
Erleuchtung muss warten
Die verschiedenen Übungen und Rituale in den Bergen sollen erreichen, dass der Yamabushi ein tieferes Verständnis von sich selbst und vom Wirken der natürlichen und übernatürlichen Kräfte im Universum erfährt und sich Eins mit der Natur und dem Kosmos fühlt. Die Pilgerwanderung in die Berge und das Zurückkommen werden auch als ein rituelles Sterben und eine Wiedergeburt verstanden, und das viele Male, denn das Ziel, ein Buddha in diesem Leben und in diesem Körper zu werden, ist weit entfernt.
Die Yamabushi beten in den Bergen nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Allgemeinwohl. Es sind meist Gebete für sehr diesseitige Dinge. Gesundheit, Glück, Erfolg und die Abwendung von Gefahren für sich und andere stehen ganz oben auf der Wunschliste. Aber auch für das Genesen von Krankheit eines Mitmenschen, für gutes Wetter, für Wohlstand im Land und für Weltfrieden bittet man.
In der gegenwärtigen Corona-Krise bemühen auch sie sich verstärkt um eine energetische Reinigung und sie beten um Heilung – für alle Menschen, für andere Lebewesen und für unseren Planeten.
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