Japan ist reich an Pilgerwegen, die zu hunderten über das Land verteilt sind und sich in zwei Kategorien unterteilen: Jene, bei denen Pilgerstätten das Ziel der Reise sind – wie der Tempel Kongōbu-ji auf dem heiligen Berg Kōya-san – oder Pilgerrundreisen, bei denen mehrere Tempel besucht werden und am Anfangspunkt wieder enden. Auf diesen Pilgerrundreisen werden entweder 33 oder 88 Tempel besucht. Die 33 Tempel beziehen sich auf Kannon Boddhisatva, die aus dem Mahayana-Buddhismus stammende Göttin der Barmherzigkeit. Die 88 Tempel hingegen sind verbunden mit dem Mönch und Gründer des Shingon-Buddhismus Kōbō Daishi (774-835), auch Kūkai genannt. Oft werden den 88 Tempeln 20 weitere Nebentempel, genannt bekkaku, hinzugefügt. Dadurch wird die Gesamtanzahl auf 108 erhöht, eine Zahl, die im Buddhismus Vollkommenheit und Einheit mit dem Universum symbolisiert.
Auf der Insel Shikoku entstand die erste 88-Tempel-Pilgerreise, welche heutzutage vor allem zur Kirschblüte sowie zur Herbstfärbung Pilger aus aller Welt anzieht. Wer zum ersten Mal zu einer Pilgerreise aufbricht und nicht sofort den 1.200 Kilometerweg auf Shikoku laufen möchte, dem bietet die kleine Nachbarinsel mit einem 150 Kilometer langen Weg eine gute Möglichkeit, die körperliche Ausdauer zu testen: Shōdoshima liegt im Seto-Binnenmeer und ist neben der Anzucht von Oliven auch für seinen „Mini-88-Tempel-Pilgerweg“ bekannt. Diese Route zählt zu den Geheimtipps unter den Pilgerwegen Japans. Die wenig frequentierten Wege laden ein in die Natur einzutauchen, anzukommen und die innere Ruhe zu finden.

Auf den Spuren Kōbō Daishis
Verglichen mit vielen anderen 88 Tempel Routen in Japan blicken Shikoku und Shōdoshima auf eine lange Geschichte zurück, die eng mit dem Leben von Kōbō Daishi in Verbindung steht. Geboren wurde er 774 in der Stadt Zentsūji in der Präfektur Kagawa auf Shikoku unter dem Namen Kūkai, was so viel wie „Meer der Leere“ bedeutet. Schon in jungen Jahren wurde ihm, aufgrund seiner aristokratischen Abstammung, eine umfassende Ausbildung in chinesischer Literatur und Geschichte zuteil. Jedoch begann er vermehrt Interesse für den Buddhismus zu entwickeln und entschied sich gegen die sichere Bürokratenlaufbahn. Bereits im Alter von 24 Jahren schrieb er sein erstes Werk, das Sangōshiki, in dem Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus vergleichend gegenübergestellt werden. Danach zog er sich bis zu seinem 30. Lebensjahr in die Stille der Natur zurück und verbrachte die Jahre als Wandermönch auf Shikoku und Shōdoshima.
Die 88 Orte, die er auf beiden Inseln aufsuchte, bilden heute die zwei Pilgerwege. Anschließend reiste er nach China, um sein Wissen über religiöse Texte zu vertiefen und sich in Dichtung sowie Kalligrafie ausbilden zu lassen. Im Jahr 806 kehrte er nach Japan zurück und gründete in den darauffolgenden Jahren einige Tempel auf Shikoku sowie sämtliche Haupttempel auf Shōdoshima. Aus diesem Grund haben viele Tempel auf Shikoku eine gesonderte Daishi-Halle, die Kūkai gewidmet ist, während im restlichen Tempelkomplex oft eine andere buddhistischen Gottheit verehrt wird.
Zudem wurde Kūkai zum Leiter der Tempel in Fukuoka (Tōchō-ji), Kyōto (Takaosan-ji / Tō-ji) und Wakayama (Kongōbu-ji) ernannt. Letzterer ist heute der Haupttempel des neuen Shingon-Buddhismus auf dem heiligen Berg Kōya-san, wo Kūkai an einer Krankheit im Jahr 835 im Meditationssitz verstarb. Seine Mumie wacht bis heute über das weite Tempelgelände, das 120 kleinere Tempel umfasst. Manche Mönche behaupten, noch immer seine leisen Atemzüge hören zu können. 86 Jahre nach seinem Tod verlieh ihm der Daigo-Tennō den Ehrentitel Kōbō Daishi.
Der Mini-88-Tempel-Pilgerweg
Zu Fuß kann der Pilgerweg, je nach Laufgeschwindigkeit, in 7 bis 10 Tagen bewältigt werden. Einige Pilger wählen das Auto, den Bus oder das Fahrrad zur Fortbewegung. Allerdings führt die asphaltiere Straße im Vergleich zu den Waldwegen viel mehr auf und ab, was vor allem mit dem Rad große Anstrengung mit sich bringt. Die Strecke verläuft größtenteils direkt an der malerischen Küste entlang, vorbei an Fischerdörfern und kleinen, beschaulichen Städten. Nicht nur die 88 Haupttempel und die 20 Nebentempel können besucht werden, sondern auch alle anderen Sehenswürdigkeiten, wie der Olivenpark oder die Straße der Engel, liegen entlang der Strecke.
Am Hafen in Tonoshō befindet sich im Tempel Nr. 64 ein Informationszentrum, wo die wichtige Pilgerkarte auf Japanisch erworben werden kann. Viele Pilger wählen Tonoshō als Startpunkt. Eine Alternative wäre das Sen-Gästehaus in der Nähe vom Hafen Sakate beim Tempel Nr. 6. Diese bezaubernde Pension mit Blick auf das offene Meer wird von einem amerikanisch-japanischen Paar geführt, das seine Leidenschaft für Pilgerreisen mit anderen Menschen teilen möchte. Sie haben eigens eine Pilgerkarte auf Englisch für die Insel entworfen, die über die Webseite oder vor Ort für 1.200 Yen (ca. 9 Euro) verfügbar ist. Die Karte gibt Informationen zu den einzelnen Tempeln, zur Wegstrecke, der Steigung und dem Gefälle sowie den verfügbaren Unterkünften.
Es ist ratsam die einzelnen Tagesstrecken vor der Anreise gut durchzuplanen, die spärlich vorhanden Supermärkte im Auge zu behalten und im Voraus Unterkünfte zu buchen, insbesondere weil diese im Frühling und Herbst schnell ausgebucht sind. Minshuku, Ryokan oder andere Gasthäuser bieten meistens auf Wunsch Frühstück, Abendessen sowie eine Lunchbox zum Mitnehmen an. Campingplätze sind in der wärmeren Jahreszeit ebenfalls eine gute Möglichkeit, um kostengünstig zu übernachten.

Die Pilger sind vorwiegend in weißer Kleidung, verziert mit Sanskritzeichen, und einem traditionellen Hut unterwegs. Die weiße Farbe symbolisiert im Buddhismus die Reinheit von Körper, Geist und Seele. Auch wird sie mit dem Tod in Zusammenhang gebracht. In der Heian-Zeit (749-1185) starben einige Pilger durch die Widrigkeiten der Natur oder durch Krankheit. Sie kleideten sich in Weiß in dem Wissen, dass sie jederzeit sterben konnten. Verwitterte Grabsteine am Wegesrand verweisen auch heute noch auf verstorbene Pilger. Natürlich besteht keine Pflicht zum Tragen der Pilgerkleidung – sie ist jedoch ein gutes Erkennungszeichen für Einheimische, die Pilger oft großzügig mit o-settai („Pilgergaben“) beschenken. Dabei kann es sich um Getränke, Mahlzeiten oder sogar kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten handeln.
Die Bergtempel von Shōdoshima
Die Besonderheit der Haupttempel auf Shōdoshima ist nicht nur, dass alle von Kōbō Daishi selbst gegründet wurden, sondern auch, dass zehn dieser Tempel ein Teil der natürlichen Umgebung sind. Bergtempel nutzen Höhlen als Tempelhalle, indem kunstvoll Holzplattformen in die Vertiefung hineingebaut wurden. Im Buddhismus sind Pilgerreisen Ausdruck des Kummers über die Tiefe des unauslöschlichen menschlichen Karmas und der damit verbundenen Sehnsucht, seelische Reinigung an den heiligen Stätten zu erfahren. Egal ob mit oder ohne buddhistischen Glauben: Menschen aus allen Ländern sind auf Shōdoshima willkommen, um in die Fußstapfen von Kōbō Daishi zu treten. Die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Inselbewohner schaffen ein Gefühl der Verbundenheit, die jedem Pilger in langer Erinnerung bleiben wird.

Kommentare