Kulturübergreifend symbolisiert der Faden das menschliche Schicksal. In der griechischen Mythologie spinnen beispielsweise die drei Moiren, die Schicksalsgöttinnen, den Faden bei der Geburt und wachen über das zugeteilte Leben. In Ostasien sprechen chinesische, japanische und koreanische Erzählungen von einem „roten Faden des Schicksals“, mit dem Götter Menschen an seinen oder ihren vorbestimmten Partner binden. Die verbundenen Seelen sind dazu bestimmt sich zu begegnen und zu erkennen – so unwahrscheinlich ein Treffen auch sein mag. Sie prägen sich gegenseitig und führen sich auf den richtigen Weg. In der westlichen Mythologie zeigt sich der gleiche Gedankengang unter dem Begriff eines „Seelenverwandten“ oder in der „Liebe auf den ersten Blick“: eine magische Verbindung, die sich mit Logik nicht ganz erklären lässt. Es handelt sich dabei nicht allein um Beziehungen im romantischen Sinne, sondern auch platonische Beziehungen, die dem Leben Tiefe schenken.
Der alte Mann unter dem Mond
Seinen Ursprung hat die Legende vom „roten Faden des Schicksals“ in der chinesischen Mythologie. Beschrieben als alter Mann unter dem Mond – manchmal auch auf dem Mond – ist Yuè Lǎo als Gott der Liebe und Ehe für die Verkupplung von Paaren zuständig und verbindet Menschen mit einem unsichtbaren roten Band. Diese beiden Menschen sind dazu bestimmt sich zu lieben und es gibt nichts, was das Band zu zerreißen vermag. Die Komplexität des Lebens kann es lediglich verknoten oder spannen, doch es überdauert die Zeit.
Seinem Schicksal entkommt man nicht
Der chinesische Schriftsteller Li Fuyan sammelte während der Tang Dynastie (618-907 n. Chr.) kurze Erzählungen zu übernatürlichen Vorkommnissen im Reich. In seinem Buch More Tales of Mysteries & Monsters wird der Gott der Ehe mit seinen roten Seilen zum ersten Mal schriftlich erwähnt. Überliefert sind verschiedene Versionen der folgenden Anekdote, die damals großen Anklang fand und sich in Ostasien verbreitete:
Ein junger Gelehrter namens Wei Gu traf, bei seiner Durchreise durch die Stadt Songchen, im Mondschein auf einen alten Mann, der ein Buch las. Wei konnte die Sprache nicht entziffern, also fragte er den alten Mann, um welches Buch es sich handelt. Dieser erklärte ihm, dass das Buch alle Verlobungen, Eheschließungen und Verkupplungen festhält. In einem Beutel trug er rote Seile mit sich, um die auserwählten Paare zusammen zu binden.
Auf dem Marktplatz zeigte der alte Mann auf ein junges Mädchen und prophezeite, dass dieses in 10 Jahren die Frau von Wei sein würde. Wei hielt das für lächerlich, hob einen Stein auf und warf ihn nach dem Mädchen. Jahre später wurde Wei ein Regierungsbeamter und hatte diese alte Begegnung schon vollkommen vergessen. Für seine gute Arbeit erhielt er die Hand der Tochter des Gouverneurs. Eine Frau, die als sehr schön galt, doch Schwierigkeiten hatte einen Verlobten zu finden. Als er in der Hochzeitsnacht den Schleier seiner zugeteilten Braut lüftete, fiel ihm neben ihrer Schönheit auch eine Narbe im Gesicht auf. Sie erzählte ihm, dass ein Junge sie mit einem Stein beworfen habe. Er war dieser Bursche gewesen und hat seine eigene Braut für immer gezeichnet. Sie verzieh ihm seine Tat und erklärte ihm, dass er in dieser schicksalhaften Nacht auf den Gott Yuè Lǎo, ein alter lächelnder Mann mit einem langen Bart, getroffen war.
Von der Liebe bis zum Finger schneiden
In der ursprünglichen Form der Erzählung war es ein rotes Seil, das um die Fußgelenke der Liebenden gebunden wurde. In der japanischen Kultur glaubte man jedoch, dass ein Faden vom Daumen des Mannes zum kleinen Finger der Frau verlief. Heutzutage wird in beiden Kulturen meist ein roter Faden am kleinen Finger dargestellt. Es ist nicht genau bekannt, wann und warum der Wechsel vom Gelenk zum Finger stattfand, aber in Japan gibt es eine lange Tradition rund um den kleinen Finger: er steht für hohe Versprechen. Aus der Edo-Periode (1603-1868) ist der Brauch des „Fingerabschneidens“ zwischen Männern und Frauen, die sich gegenseitig ihre Zukunft versprochen hatten, überliefert. Ursprünglich scheint dieser Brauch auf eine Prostituierte des berühmten Freudenvierteles Yoshiwara in Edo (dem heutigen Tōkyō) zurückzugehen, die ihren kleinen Finger abschnitt, um ihrem Liebhaber ihre tiefe Zuneigung zu beweisen. Prostituierte, die das Herz ihres Kunden – oder sein Geld – gewinnen wollten, schenkten dem Mann ein Stück ihrer selbst. War es zunächst nur eine Haarsträhne oder ein Fingernagel – nicht etwa geschnitten, sondern abgezogen –, steigerte sich dies zum kleinen Finger. Das tatsächliche Abschneiden des Fingers wurde so zu einem Symbol der Verpflichtung, ein Versprechen einzuhalten.
Pinky Promise
Im postmodernen Japan ist das yubikiri (wörtlich „Fingerschneiden“) ein beliebter Brauch, der die Einhaltung von Versprechen betont. Dabei werden die kleinen Finger ineinander gehakt und ein Sprüchlein rezitiert, der die Strafe bei Bruch des Versprechens nennt:
Schneide einen Finger, zehntausend Schläge. Wenn du eine Lüge erzählst, musst du tausend Nadeln schlucken.
Yubikiri genman. Uso tsuitara hari senhon nomasu.
指切拳万。嘘ついたら針千本呑ます。
Japanische Quellen weisen gerne darauf hin, dass der englische Ausdruck „pinky promise“ eine Adaption dieses Prinzips sei, das über Immigranten und Filme seinen Weg in die USA gefunden habe. Außerdem wurde später aus dem Westen in Japan der Brauch der Eheringe eingeführt, die eine unveränderliche Beziehung versprechen, und der Finger wurde zu einem wichtigen Motiv für das Liebesversprechen zwischen Partnern. So macht es durchaus Sinn, dass der rote Faden sich am Finger und nicht am Fußknöchel befinden muss.
Adaptionen in der Popkultur
In vielen japanischen Animes wird gerne mit dem Mythos vom „roten Faden des Schicksals“ gespielt, um einer romantischen Geschichte die gewisse Dramaturgie zu verleihen. Mit ihm vor Augen klingen Zufälle eher nach Schicksal und geben eine Erklärung dafür, warum sich so viele solcher Liebesfilme auf das Schicksal verlassen, um das Paar zusammenzuhalten. Ein Beispiel für die sehr erfolgreiche Umsetzung ist der Anime-Film „Your Name“ von Shinkai Makoto aus dem Jahr 2016. Die beiden Protagonisten entwickeln eine Verbundenheit, die Zeit und Raum trotzt. Sie sind wohl mit einem roten Faden für immer verbunden. Aber auch ältere Anime-Serien, wie etwa „Toradora!“ (2008), nutzen diese Sentimentalität, die beim Zuschauer ausgelöst werden kann. In diesem Fall wird ein langer roter Schal spielerisch genutzt, um die Assoziation und Emotionen zu wecken.
Der Mythos hat es längst auch in die westliche Unterhaltung geschafft: In der erfolgreichen amerikanischen Comedy-Serie „Ted Lasso“ wird die Thematik in der Folge „Sehr verbunden“ (Staffel 3, Folge 7; orig. „The Strings That Bind Us“) geehrt. Der fiktive Fußball-Trainer Ted Lasso knüpft sein Team im Training mit roten Fäden aneinander, um ihnen die Verbundenheit eines Teams und das Zusammenspiel zu verdeutlichen.
Kizuna
Im Japanischen kann die Verbundenheit zwischen Menschen auch mit 絆 (kizuna) beschrieben werden, das wörtlich „Verbindung“ oder „Band“ bedeutet. Das Schriftzeichen beinhaltet auf der linken Seite das Radikal 糸 (ito), welches „Faden“ bedeutet, und auf der rechten Seite den Lautträger 半 (kizuna), der für „Hälfte“ steht. Das Zeichen wird relativ selten verwendet, doch im Jahr 2011 wurde es von der japanischen Regierung zum Schriftzeichen des Jahres gewählt. Dies war eine Reaktion auf die schwere Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe in Fukushima im selben Jahr und sollte den erlebten globalen Zusammenhalt der Menschheit im Angesicht mit Schicksalsschlägen wertschätzen.
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