Zwischen den hochmodernen Fassaden Tōkyōs, zwischen Stahl, Glas und Beton, scheinen altmodische Dinge wie Gespenstergeschichten der Vergangenheit anzugehören. Lässt der immerwährende, taghelle Schein der Leuchtreklamen keinen Platz mehr für die Kreaturen der Nacht?
Weit gefehlt! Neben dem ganz irdischen Grusel des urbanen Lebens, wie ihn Geschichten von Serienmördern und bizarren Unfällen bereiten, wartet die japanische Popkultur mit modernen Geistergeschichten auf, die auch hartgesottenen Großstädtern kalte Schauer über den Rücken jagen.
Da ist zum Beispiel Teke-Teke, ein Mädchen, das von einem Zug überrollt und an der Hüfte durchtrennt wurde. Nachts macht sie in der Nähe von Bahnschienen Jagd auf jene, die schuld an ihrem Unfall sind.
Doch auch Unbeteiligte sind nicht sicher vor Teke-Teke, denn sie ist immer auf der Suche nach einem neuen Paar Beine. Ihr Name steht – lautmalerisch – für das Geräusch, das sie beim Laufen auf Ellenbogen und Händen verursacht. Mit einer Sichel oder ihren bloßen Händen zerteilt sie ihre Opfer – sicher kein schönes Ende.
Bin ich schön?
Ebensowenig begegnen möchte man Kuchisake-Onna, der „Frau mit dem gespaltenen Mund“. Zwar sieht sie auf den ersten Blick vollkommen normal aus – sie trägt einen Mundschutz, der in Japan bei Erkältungen üblich ist, und scheint darunter recht hübsch – doch allerhöchste Vorsicht ist geboten! Sie nähert sich Passanten mit der Frage: „Bin ich schön?“, und von der Antwort hängt das Leben ab.
Ein „Nein“ ist tödlich. Antwortet man schmeichelnd mit „Ja“, zieht sie die Maske herab und offenbart einen von Ohr zu Ohr aufgerissenen Mund voller spitzer Zähne. Andere entstellt sie, indem sie ihnen ebenfalls den Mund aufschlitzt. Nur eine Antwort kann das Opfer retten: „Durchschnittlich“!
Verzaubert-gespenstischer Alltag
Doch nicht alle yōkai sind derart bedrohlich. Das Pantheon ist voll von harmlosen Gestalten wie den Gnom-artigen Yanari, die für nächtliche Geräusche in alten Häusern verantwortlich sind, oder Seto Taishō, dem „Porzellan-General“ aus altem Geschirr. Weggeworfene oder missachtete Alltagsgegenstände bekommen als tsukumogami ein neues, polterndes Leben und wandern in nächtlichen Prozessionen durch die Straßen.
Auch Tiere finden sich unter den yōkai. Manche sind Gestaltwandler. Füchse (kitsune) verwandeln sich in schöne Frauen und verführen Männer. Sie fahren sogar wie Dämonen in Menschen und treiben sie in den Wahnsinn. Viele Volksmärchen berichten von den kitsune.
Die Tanuki genannten Marderhunde sind da angenehmere Zeitgenossen: Sie verwandeln Blätter in Geldscheine und sich selbst in Menschen, um an Schnaps und Essen zu gelangen und dann im Wald rauschende Feste zu feiern. Um von den Menschen nicht entdeckt zu werden, verwandeln sie sich gelegentlich in Stein. Achten Sie in Japan mal drauf: Vor Kneipen stehen oft Tanuki-Statuen und kündigen an, dass es hier feuchtfröhlich zugeht. Vielleicht zwinkert Ihnen ja einer davon zu…?
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