Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Dōkyō – Amaterasu und ihr Bronzespiegel

Maria-Laura Mitsuoka
Maria-Laura Mitsuoka

Spieglein, Spieglein an der Wand – in vielen Kulturen werden Spiegel mystifiziert oder gar verehrt. Seit jeher dienen sie als Lichtreflektoren, zur optischen Täuschung oder auch als Portale in alternative Welten. Welche Bedeutung hatten Spiegel im prähistorischen Japan und warum wurden bis zu hunderte von ihnen in Kofun-zeitliche Gräber gelegt?

Ein Farbholzschnitt aus dem 19. Jahrhundert, der von Shunsai Toshimasa signiert wurde. Er zeigt, wie die Sonnengöttin Amaterasu ihre Höhle verlässt, nachdem sie mit einem Spiegel und einem Tanz hinausgelockt worden ist. (Public Domain, CC 0)

Die ältesten Bronzespiegel Japans (dōkyō) lassen sich in die Yayoi-Zeit (ca. 300 v. Chr. – 250 n. Chr.) datieren und stammen ursprünglich aus China. Die Hochblüte ihrer Nutzung fällt jedoch in die Kofun-Zeit (250 – 538 n. Chr.), in der koreanische Einwanderer Bronzeverarbeitungstechniken einführten, die eine inländische Produktion ermöglichten. Im alten Japan galten Spiegel als Symbol der Macht und wurden als Repräsentanten der Götter verehrt. Darüber hinaus boten sie Oberflächen für künstlerische Motive, die je nach Epoche von geometrischen Mustern bis hin zu Tierdarstellungen reichten.

Die Geburt einer Spiegelkultur

Bronzespiegel erfreuten sich nicht nur in Japan, sondern im gesamten ostasiatischen Raum großer Beliebtheit. Die frühesten archäologisch bekannten Spiegelfunde Asiens sind ca. 4.000 Jahre alt und stammen aus der Qijia-Kultur (ca. 2200 – 1600 v. Chr.) in Qinghai, im Nordwesten des chinesischen Kontinents. Bei diesen Funden handelt es sich um kleine Exemplare mit sehr dünnen Wandstärken, die wohl hauptsächlich für rituelle Zwecke verwendet wurden. Da auf zahlreichen Bronzespiegeln sonnenartige Zickzack-Linien abgebildet sind, bringen die meisten Archäologen sie mit einem Sonnenkult in Verbindung.

Um 200 v. Chr. wurden die ersten Spiegel vom asiatischen Kontinent nach Japan importiert. In der Archäologie werden diese Exemplare aufgrund der knaufartigen Halterungen tachūsaimonkyō (vielknäufiger Spiegel mit feinem Muster) genannt. Sie verfügten über einen breiten Rand und waren mit groben geometrischen Linien verziert. Etwa 100 Jahre später verbreiteten sich auf dem japanischen Archipel Spiegel aus der Vor-Han-Zeit (206 v. Chr. – 8 n. Chr.), deren motivische Struktur bereits ausgereifter war. Sie setzten sich aus mehreren “Reihen” zusammen, von denen die äußeren oft mit Zickzack-Linien verziert waren. 

Kofun-zeitlicher Spiegel
Ein Kofun-zeitlicher Spiegel, der nach einem chinesischen Vorbild geschaffen worden ist. Im äußeren Bereich sind die Zickzack-Verzierungen gut erkennbar. © The Metropolitan Museum of Art. / The Harry G. C. Packard Collection of Asian Art, Gift of Harry G. C. Packard, and Purchase, Fletcher, Rogers, Harris Brisbane Dick, and Louis V. Bell Funds, Joseph Pulitzer Bequest, and The Annenberg Fund Inc. Gift, 1975

Spiegel erobern Japan

Sobald sich die Bronzeverarbeitung auf dem japanischen Archipel etabliert hatte, begannen geschickte Schmiede heimische Exemplare herzustellen. Im Durchschnitt waren diese größer als ihre chinesischen Vorgänger, wiesen aber nicht so vielfältige Ausschmückungen auf. Besonders beliebt waren geometrische Motive, während chinesische Götterdarstellungen eher in den Hintergrund rückten.
Viele der Spiegel dienten als Grabbeigaben und waren in antiken Grabhügeln enthalten.

Ein bekanntes Beispiel ist das Hashihaka-Kofun in Nara, das Himiko, der ersten Kaiserin von Japan, zugeschrieben wird. Fast 100 Exemplare der sogenannten Götter- und Tierspiegel mit dreieckigem Rand,  die vor allem in der Yamato-Region verbreitet waren, wurden bei Ausgrabungen entdeckt. Die zahlreichen Funde im Bestattungskontext deuten darauf hin, dass Bronzespiegel wahrscheinlich eng mit dem Glauben an ein Jenseits verbunden waren.

Statue-of-Queen-Himiko-at-Kanzaki-StationHimiko von Yamatai – Die erste Herrscherin JapansFrauen in Führungspositionen sind in Japan heutzutage relativ selten anzutreffen. Dabei gab es schon vor Jahrhunderten weibliche Herrscher u...20.04.2021

Ein Han-zeitlicher "Vier-Götter-Spiegel" mit rechteckigem Gehäuse, der vielen japanischen Exemplaren als Vorbild galt. © Rogers Fund, 1917, The Metropolitan Museum of Art.

Yata-no-kagami – Amaterasus Spiegel

Viele Historiker versuchen, die Bedeutung dieser Spiegel anhand alter Textpassagen zu belegen. Die wichtigste und bekannteste Erzählung, die sich mit einem Spiegel befasst, findet sich im Kojiki, einer Kompilation alter Mythen und Legenden aus dem Jahr 712 n. Chr.

Sie besagt, dass der Gott Susanoo-no-mikoto zahlreiche Tabubrüche begeht und einige Diener der Sonnengöttin Amaterasu tötet, woraufhin diese in eine himmlische Höhle flieht, in der sie ihr Licht vor der Welt verbirgt. Viele Götter versuchen, sie mit verschiedenen Methoden herauszulocken, scheitern aber alle, bis die Göttin Ame-no-Uzume einen Spiegel vor den Höhleneingang stellt und beginnt, obszön zu tanzen. Diese Aktion löst so viel Gelächter aus, dass Amaterasu neugierig wird und die Höhle verlässt. Daraufhin begegnet sie ihrem eigenen Spiegelbild, das sie in einigen Versionen der Geschichte zunächst nicht erkennt und zu bekämpfen versucht, während sie den Spiegel in anderen Versionen durch ihre Schönheit zum Strahlen bringt. Schließlich gelingt es den Göttern, sie zu überreden, in den Himmel zurückzukehren, woraufhin die Sonne wieder auf die Welt herab scheint. Eines Tages übergibt Amaterasu ihrem Enkel Ninigi-no-mikoto den Spiegel mit folgender Aufforderung: “Betrachte diesen heiligen Spiegel als niemand anderen als mich selbst, bewahre ihn und verehre ihn bis in alle Ewigkeit.”

Der Spiegel aus der Legende, der bis heute als Repräsentant der Sonnengöttin Amaterasu gilt und die Welt vor der Dunkelheit gerettet hat, ist der yata-no-kagami, der zusammen mit dem heiligen Schwert ame-no-murakumo-no-tsurugi und dem heiligen Juwel yasakani-no-magatama zu den drei kaiserlichen Insignien zählt, die bei Krönungszeremonien verwendet werden. Heute wird der Spiegel im Amaterasu-Omikami-Schrein in Ise (Präfektur Mie) aufbewahrt. Er steht für Weisheit (in einigen Übersetzungen für Ehrlichkeit) und ist bekannt dafür, dem Betrachter die Wahrheit oder die wahre Natur dessen, was er widerspiegelt, zu offenbaren.

Amano Iwato-Schrein
Der Amano Iwato-Schrein in der Präfektur Miyazaki. Laut der Legende im Kojiki versteckte sich Amaterasu in dieser Höhle vor ihrem Bruder Susanoo-no-mikoto. ©ryujinmape (photo-ac)

Realität und Scheinwelt im Spiegel vereint?

Welchen Stellenwert könnten Spiegel im prähistorischen Japan folglich gehabt haben? Da keine schriftlichen Quellen aus der Zeit überliefert sind, gibt es keine genauen Antworten. Viele Archäologen gehen jedoch davon aus, dass Spiegel bereits in der Yayoi-Zeit als Repräsentanten einer Sonnengottheit galten und im Zusammenhang mit einem Sonnenkult verehrt wurden. Die Sonne und ihr Zyklus dürften ab der Yayoi-Zeit, einer Epoche, in der die Landwirtschaft und der Reisanbau die Oberhand gewannen, eine große Rolle gespielt haben. Entsprechend wird davon ausgegangen, dass viele Riten und Bräuche darauf ausgerichtet waren, die Sonne zu besänftigen.

Bis heute sind Spiegel in der japanischen Volkskunde von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu vielen westlichen Kulturen, in denen Spiegel seit jeher mit Geistern und Unheil in Verbindung gebracht werden, stellen sie in der japanischen Tradition Licht, Wahrheit und Weisheit dar. Darüber hinaus ist die Auffassung vertreten, dass ein Spiegel Realität und Scheinwelt zugleich zeige, weswegen er als Schnittstelle zwischen der physischen und der geistigen Welt diene.

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