Das Kojiki („Aufzeichnung alter Begebenheiten“) ist das älteste überlieferte Schriftwerk, geschrieben im Jahre 712, in dem die Mythen und Legenden des damaligen Japans niedergeschrieben sind. Dort wird die Geschichte der Kaiserfamilie vom Beginn des Himmelsreiches bin hin zur Zeit der Kaiserin Suiko beschrieben – doch tatsächlich handelt es sich dabei um Göttersagen. Als es verfasst wurde, war das Nationalbewusstsein der Bevölkerung größer als je zuvor. Man wollte Japan als eine von anderen Ländern unabhängige Nation darstellen, in dessen Zentrum die Kaiserfamilie stand.
Das Kojiki besteht aus drei Faszikeln: Der erste behandelt die Schöpfung von Himmel und Erde, die Geburt der Götter sowie die Erschaffung Japans und der Menschen. Die anderen zwei erläutern die Errungenschaften der aufeinanderfolgenden Kaiser und deren Abstammung von den Göttern. Im Folgenden geht es um den Inhalt des ersten Bandes.
Die Erschaffung der Welt und die Geburt der Götter
Mythen gibt es überall, doch wenn sie von der Entstehung der Welt handeln, dann gibt es je nach Religion und Kultur deutliche Unterschiede, ob diese Welt von Göttern oder von der Natur erschaffen wurde. In Japan herrscht nicht die Idee vor, die Welt sei durch einen Schöpfer oder Gott kreiert worden. Im Kapitel Kuniumi (wörtlich „Geburt des Landes“) des Kojiki wird nicht beschrieben, wie und warum die Welt entstanden ist, sondern dass im hoch über dem Himmel gelegenen Götterreich Tamagahara bereits drei Götter existierten. Dort heißt es auch, dass der Beginn von Himmel und Erde „dem Zustand einer umhertreibenden Qualle“ glich. Ein Gott nach dem anderen wurde geboren, und am Ende erblickten Izanagi und Izanami das Licht der Welt. Die beiden wurden von den Göttern des Tamagahara angewiesen, ein neues Land zu erschaffen. Dafür tauchten sie zuerst einen Speer ins Meer und rührten kräftig darin herum.
Als sie ihn anschließend herausgezogen, verfestigte sich das Salz, das von der Speerspitze herabtropfte, und formte eine Insel. Das Paar kam auf diese Insel hinab und erschuf einen himmlischen Pfeiler sowie daraufhin acht weitere Inseln: zuerst die Insel Awaji, Shikoku, Oki und Kyūshū, dann Iki, Tsushima, die Insel Sado sowie zu guter Letzt Honshū. Die Schöpfung dieser Inselkette markiert den Beginn des Landes Japan.
Reise ins Reich der Toten
Nachdem sie die Inseln erschaffen hatten, brachten Izanami und Izanagi zahlreiche Götter zur Welt. Doch während der Geburt des Feuergottes Kagutsuchi verbrannte Izanami und starb. Von Trauer getrieben begab sich Izanagi in die Unterwelt, Yomi, um seine Frau zurückzuholen. Izanami, die bereits von den Speisen des Totenreiches gegessen hatte, konnte jedoch nicht mehr in ihre Welt zurückkehren. Unter der Voraussetzung, dass Izanagi seine Frau während des Aufstiegs nicht ansah, durfte Izanami die Unterwelt verlassen. Doch ihr ungeduldiger Mann drehte sich trotzdem um. Der wahre Anblick Izanamis verrottender Gestalt war so schrecklich, dass er entsetzt fortlief und sie zurückließ.
Aus Yomi entkommen, versperrte Izanagi den Eingang mit einem großen Felsen. So verärgert darüber, dass er sein Versprechen ihr gegenüber gebrochen hatte, schwor Izanami jeden Tag 1 000 Menschen das Leben zu nehmen. Im Gegenzug sagte Izanagi, er würde täglich 1 500 Menschen das Leben schenken. Seitdem würden mehr Menschen geboren werden als sie sterben.
Die Geburt der drei kostbaren Kinder
Um sich vom Schmutz der Unterwelt zu reinigen, badete Izanagi anschließend im Meer. Die Sonnengöttin Amaterasu wurde geboren, als er sich das linke Auge wusch, der Mondgott Tsukuyomi aus dem rechten Auge und der Sturmgott Susanoo, als Izanagi sich die Nase reinigte. Zufrieden mit der Geburt seiner drei kostbaren Kinder, vertraute er Amaterasu das Himmelsreich, Tsukuyomi das Land der Nacht und Susanoo den Ozean an.
Der zweitgeborene Tsukuyomi findet im Kojiki allerdings kaum Erwähnung – selbst sein Geschlecht ist eigentlich nicht bekannt. Der japanische Psychologe Kawai Hayao argumentiert, dass die stille Anwesenheit Tsukuyomis die stark gegensätzlichen Persönlichkeiten von Amaterasu und Susanoo ausgleichen solle. Wann immer es in japanischen Göttersagen ein Göttertrio gibt, steht eine unauffällige Präsenz oft im Zentrum zweier kontrastierender Gestalten. Auch wenn diese gelegentlich in Konflikt geraten, so erkennt man trotzdem eine harmonische Struktur. Wichtig sei nicht die Stärke, sondern die Ausgewogenheit des Ganzen. Dieser Zustand wird als der Nationalcharakter Japans angesehen und selbst in der heutigen Zeit gibt es die Tendenz, die Anwesenheit eines einzigen Anführers innerhalb eines Systems abzulehnen. Ein „Oberhaupt“ leite nicht einfach alles, sondern sorge für „Harmonie“ innerhalb der Gruppe.
Es mag schwierig sein, die Vorteile eines solchen Systems zu sehen, aber vielleicht hilft der Ansatz des chinesischen Philosophen Laozi aus dem 6. Jahrhundert. Laozi sagte, dass „alles, was eine Form besitzt, nützlich ist und alles ohne Form eine unterstützende Rolle dafür spielt“. Wenn Sie beispielsweise Keramik herstellen, können Sie etwas in den leeren Teil hineintun. Ebenso wird das Wohnzimmer eines Hauses gebaut, in dem man den Platz für Fenster und Türen aushöhlt. Mit anderen Worten: Etwas „existiert“, weil etwas anderes „nicht existiert“. Alle materiellen Dinge sind nur möglich, weil sie von den immateriellen Dingen unterstützt werden.
Wenn Sie auf diese Weise an japanische oder andere Mythen herangehen, können Sie den Geist der überlieferten Kultur und Tradition nachvollziehen.
Dieser Artikel erschien in der April 2021-Ausgabe des JAPANDIGEST und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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