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Amaterasu: Die Sonnengöttin der japanischen Mythologie

Yaren Gülsoy
Yaren Gülsoy

Der japanische Shintō-Glaube verehrt unzählige Götter, bekannt als kami. Eine der bekanntesten unter ihnen ist Amaterasu Ōmikami, die „große Göttin, die den Himmel erleuchtet“. Sie ist die Sonnengöttin im Reich der aufgehenden Sonne und die Urahnin des ältesten ununterbrochenen Kaiserhauses der Welt.

Amaterasu verlässt die Höhle, in die sie geflüchtet war (Holzschnitt von Utagawa Kunisada, um 1856).
Amaterasu verlässt die Höhle, in die sie geflüchtet war (Holzschnitt von Utagawa Kunisada, um 1856).

Im Shintōismus gelten Izanami und Izanagi als das Urgötterpaar, welches aus dem himmlischen Gefilde herabstieg und durch eine Reihe heiliger Rituale den japanischen Archipel sowie die umgebende Natur erschuf. Die ältesten japanischen Chroniken, das Kojiki (712) und das Nihonshoki (720) schildern den Schöpfungsmythos zwar in leicht unterschiedlicher Form, doch in den wesentlichen Punkten stimmen sie überein: Als Izanami den Feuergott Kagutsuchi gebar, erlag sie den schweren Verbrennungen und verstarb. In seiner Trauer folgte Izanagi ihr in die Unterwelt, um sie zurückzuholen. Er stellte jedoch zu seinem Entsetzen fest, dass sich Izanami bereits in eine Kreatur der Unterwelt verwandelt hatte, woraufhin er schreckerfüllt floh und seine Gattin zurückließ.

Nach seiner Flucht vollzog Izanagi eine rituelle Waschung (misogi), um sich von der Verschmutzung der Unterwelt zu reinigen. Aus diesem Ritual gingen die drei bedeutendsten Shintō-Gottheiten hervor: Beim Waschen seines rechten Auges wurde die Sonnengöttin Amaterasu geboren, beim Waschen seines linken Auges der Mondgott Tsukiyomi und bei der Reinigung seiner Nase schließlich der Sturmgott Susanoo. Die Herrschaft über die Himmlischen Gefilde (takama no hara) übergab Izanagi der ältesten der drei Geschwister, Amaterasu. Eine verbreitete Überlieferung besagt, dass Amaterasu und Tsukiyomi gemeinsam die Herrschaft im Himmel ausübten, doch die Mondgottheit bleibt in den Erzählungen meistens im Hintergrund.

Ein himmlischer Geschwisterstreit

Im Gegensatz zu seinen Geschwistern erhält Susanoo die unwillkommene Aufgabe, über die Erde zu herrschen. Bevor er dieser Bestimmung folgt, sucht er Amaterasu auf, um sich angeblich von ihr zu verabschieden. Sie empfängt ihn mit Misstrauen und fordert einen Beweis seiner guten Absicht. Susanoo schlägt vor, durch einen göttlichen Eid und den Tausch ihrer Machtinsignien Kinder zu zeugen. Amaterasu zerbricht hierfür Susanoos Schwert, kaut und spuckt es aus, wodurch drei Göttinnen entstehen. Susanoo wiederholt den Vorgang mit Amaterasus Kette aus Krummjuwelen und erschafft fünf männliche Götter. Da die weiblichen Kinder aus Susanoos Schwert, also seinem Eigentum entstanden sind, sind es somit seine Kinder, während die männlichen Kinder aus Amaterasus Eigentum entstanden, als ihre Nachfahren gelten. Susanoo erklärt danach, dass seine Unschuld bewiesen sei, da aus seinem Schwert aufrechte Mädchen gezeugt wurden. So darf er zunächst im Himmel bleiben – bis seine späteren Verbrechen dies ändern würden.

Die Untaten des Susanoo, auch als „Sünden des Himmels“ bezeichnet, umfassen eine Reihe von Sabotageakten gegen die landwirtschaftliche Produktion, die Entweihung religiöser Stätten sowie grausame und gewaltsame Handlungen gegenüber Menschen und Tieren. Diese Vergehen ereignen sich überwiegend in den Himmlischen Gefilden, insbesondere im Palast seiner Schwester Amaterasu.

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Die Welt in Finsternis

Eine der bekanntesten Erzählungen beschreibt den tragischen Tod einer Weberin in der heiligen Webhalle. Während diese damit beschäftigt ist, himmlische Gewänder für die Götter zu weben, erschreckt sie ein Pferd, das Susanoo auf grausame Weise gehäutet und in die Halle geworfen hatte. Im Schreck verletzt sich die Weberin tödlich am Webschiff, woraufhin Amaterasu tief bestürzt in eine Felsenhöhle flüchtet. Der Rückzug der Sonnengöttin hüllt die gesamte Welt in Finsternis ein.

Legende der Amaterasu: Die Götter locken die Sonnengöttin aus ihrer Höhle hervor und erleuchten damit wieder Welt.

Daraufhin versammeln sich die unzähligen Götter am Ufer des himmlischen Flusses und überlegen, wie sie Amaterasu wieder aus der Höhle locken könnten. Hierfür werden zunächst heilige Opfergaben angefertigt: ein Spiegel, gefertigt aus himmlischem Felsen und Eisen, der die Sonne symbolisieren soll, sowie eine Kette aus fünfhundert Krummjuwelen. Diese Gegenstände werden anschließend an einem prächtigen Baum befestigt, der vor die Felsenhöhle platziert wird, in die sich Amaterasu zurückgezogen hatte. Die Göttin Ame no Uzume, Ahnenherrin von Ritus, Tanz und Theater, führt einen ekstatischen Tanz auf, der die Götter zum Lachen bringt und Amaterasus Neugier weckt. Als diese schließlich langsam aus der Höhle hervortritt, wird sie von den Göttern herausgezogen. Um sicherzustellen, dass sie nie wieder in die Dunkelheit flüchtet, versperren die Götter den Eingang zur Höhle mit einem heiligen, geflochtenen Seil, dem shimenawa. Dieses Seil symbolisiert heute die Gegenwart eines Gottes und ist am Eingang von shintoistischen Schreinen, aber auch an heiligen Bäumen und Felsen zu finden.

Die Urahnin des japanischen Kaisers

Als Susanoo wegen seiner Übeltaten aus dem Himmel verbannt wird, steigt er zur Erde herab, wo er die achtköpfige Schlange Yamata no Orochi tötet. Im Schwanz der Schlange findet er das Schwert Kusanagi, das er Amaterasu als Entschuldigung für seine Missetaten überreicht. Nachdem Susanoos Nachkomme die Herrschaft auf der Erde übernimmt, plant Amaterasu, ihren eigenen Himmelsenkel Ninigi als neuen Herrscher zur Erde zu senden.

Ninigi ist der Sohn einer der Götter, die Amaterasu und Susanoo zuvor gemeinsam gezeugt hatten und daher ihr direkte Nachfahre. Sie überreicht ihm die drei Reichsinsignien: das Schwert, den Spiegel und das Krummjuwel. Der Spiegel, ein Abbild der Sonnengöttin selbst, erinnert an den Moment, als sie sich bei ihrer Rückkehr aus der Felsenhöhle darin erblickte. Das Schwert Kusanagi symbolisiert Macht, während die Krummjuwelen wahrscheinlich auf die Halskette zurückgehen, die Izanagi einst Amaterasu als Zeichen der Herrschaft übergab.

Die drei Throninsignien.

Ninigi überträgt später die Herrschaft über die Welt an seinen Sohn Jimmu, welcher als der erste mythologische Kaiser Japans in die Geschichte eingeht. Die japanische Kaiserfamilie leitet ihre Abstammung von Kaiser Jimmu und somit von der Sonnengöttin Amaterasu ab. Bis zum Zweiten Weltkrieg glaubte ein Großteil des japanischen Volkes, dass der Kaiser selbst göttlicher Natur sei. Die Artefakte, die Amaterasu einst Ninigi übergab, gelten bis heute als Throninsignien und werden streng vor der Öffentlichkeit geschützt.

Die Throninsignien werden selbst bei der Inthronisierung des Kaisers (hier von Akihito im Jahr 1989) nicht entblößt. © 首相官邸 (CC BY 4.0)

Amaterasu und das Matriarchat

Es sorgt oft für Verwunderung, dass Amaterasu weiblich ist, während in den meisten Mythologien die Sonne von einem männlichen Gott verkörpert wird. Eine Theorie besagt, dass Amaterasu ursprünglich männlich war und erst in Anlehnung an Kaiserin Jitō (686–697) als weiblich dargestellt wurde, was mit dem Beginn der mythologischen Aufzeichnungen in dieser Zeit übereinstimmt. Eine andere Erklärung könnte in der historischen Rolle der Frau liegen, die sich im Laufe der Zeit veränderte. Eine chinesische Chronik aus dem 3. Jahrhundert berichtet von der Schamanenkönigin Himiko, die möglicherweise als Vorbild für die weibliche Darstellung der wichtigsten Gottheit Japans diente. Himiko und Amaterasu teilen viele Gemeinsamkeiten: Beide lebten zurückgezogen und unverheiratet, und beide pflegten eine besondere Beziehung zu einem Bruder, der sie in ihren Aufgaben unterstützte. Dies deutet auf die Existenz eines Matriarchats im frühen Japan hin, was in einem interessanten Widerspruch zu der heutigen Stellung der Frau in der Thronfolge des japanischen Kaiserhauses stünde. Diese These muss jedoch mit Vorsicht betrachtet werden.

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