Auch im neuen Jahr 2021 befindet sich Japan inmitten der Corona-Krise. Zudem rief die Regierung schon im Januar für die Präfekturen Tōkyō, Saitama und Kanagawa den inzwischen zweiten Notstand aus, bevor kurz darauf weitere Notstände in anderen Präfekturen folgten. Bereits zu Beginn der Ausbreitung im Jahr 2020 veröffentlichte das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt ein Bild auf seiner Homepage, auf welchem die Aufschrift Stop! Kansen kakudai COVID-19 (in etwa: „Stoppt die Ausbreitung von COVID-19!“) steht. Links daneben fand sich auch eine Fisch-ähnliche, einfach gezeichnete Figur mit längerem Haar. Im Text steht dazu erklärt, dass es sich dabei um das mythologische Fabelwesen namens Amabie handelt.
Der Legende nach handelt es sich bei dem Wesen Amabie um eine magische Kreatur, welche vor allem vor Krankheiten schützen soll. Historisch tauchte es zuerst auf einem Holzschnitt der Edo-Zeit aus dem Jahre 1846 in der alten Provinz Higo, der heutigen Präfektur Kumamoto, auf und zeigt neben der Gestalt auch eine Inschrift, welche über das geheimnisvolle Wesen berichtet.
So soll damals eine Zeit lang jede Nacht ein mysteriöses Leuchten über dem Meer in der alten Provinz zu sehen gewesen sein, dessen Rätsel ein neugieriger Stadtbeamter eines Tages auf die Spur kommen wollte. An der Küste traf er auf das Wesen mit Meerjungfrau-ähnlichem Aussehen, welches sich ihm als Amabie offenbarte:
„Ich komme aus dem Meer und trage den Namen Amabie. Für die nächsten sechs Jahre wird es eine gute und ertragreiche Ernte geben, doch wird euch auch eine Seuche heimsuchen und sich ausbreiten. Dann sollt ihr ein Abbild von mir zeichnen und es an alle Menschen verteilen.“ [1, inoffizielle Übersetzung]
Darüber, welches Geschlecht Amabie besitzt, scheint es in den historischen Aufzeichnungen keine offiziellen Angaben zu geben. Die Frage an sich ist jedoch sehr spannend, sind es in der japanischen Mythologie doch meist nämlich weibliche, fischähnliche Wesen, welche den Kontakt zu Menschen suchen und ihnen über zukünftige Ereignisse berichten.
Amabie lässt sich als Figur also somit in die Unterkategorie der sogenannten Yogenjū (予言獣), den „prophetischen“ Fabelwesen einordnen. Diese besitzen die Fähigkeit, Zukunftsvorhersagen zu treffen, wie zum Beispiel Prognosen über eine gute Ernte, den Eintritt einer Katastrophe, die Ausbreitung einer Krankheit oder die Niederlage in einem Krieg. Zu diesen „prophetischen“ Figuren gehören unter anderem das Fabelwesen Kudan, ein Rind-ähnliches „Tier“ mit Menschengesicht, welches sprechen kann, sowie Hime-uo („Fischprinzessin“), ein gehörntes Fischwesen mit dem Kopf einer Frau. Ebenso existiert in anderen, historischen Aufzeichnungen die Legende um ein prophetisches Mischwesen aus Frau und Schildkröte, dort als Hōnengame („Glücksjahrs-Schildkröte“) erwähnt.
Längst vor COVID-19 existierte in der japanischen Öffentlichkeit bereits ein größeres Interesse an diesen magischen Wesen. So gibt es zahlreiche, bebilderte Publikationen zu diesen, wobei man vor allem die „Enzyklopädie zur Artenbestimmung der magischen Kreaturen Japans“ (Nihon no genjū zufu, 日本の幻獣図譜) erwähnen kann, welche 2016 erschienen ist. [2] Dennoch gibt es erst seit der Pandemie einen regelrechten Boom um Amabie.
Der Neubeginn einer noch längeren und weiteren Reise
Schon bald nachdem Amabie durch das Ministeriums-Poster im Internet die Aufmerksamkeit auf sich zog, verbreitete es sich rasch durch Japans Medien, konnte aber auch in Form von Papiertalismanen und bunten Stickern an Bahnhöfen, den Türen von Geschäften und sogar als Motiv auf Keksen und Getränkeflaschen gesehen werden. Somit stand schnell fest, dass Amabie zum gefragtesten, magischen „Maskottchen“ mit besonderer Wirkung erkoren wurde und der Hype nicht zu stoppen war. Selbst an Schreinen errichtete man im Frühjahr 2020 Statuen des magischen Fabelwesens, zu welchen seither viele Besucher pilgern, um für den Schutz vor einer Ansteckung zu beten.
Zum Beispiel hat man im Ōshimago-Suwa-Schrein in der Stadt Amakusa in Kumamoto, Amabies „Heimat“, eine Steinfigur aufstellen lassen. Dort werden seither auch Papiertalismane mit Amabie-Motiven an die Besucher verteilt, genauso wie es das Fabelwesen selbst bei seiner einstigen Offenbarung im Jahre 1846 ans Herz gelegt hatte. Am Isahaya-Schrein in der Präfektur Nagasaki steht seit Mai 2020 auch eine hölzerne Skulptur von Amabie.
Amabie goes „viral“!
Nicht zuletzt durch das Internet erlebt das quirlige Figürchen seine fast schon globale Verbreitung. Es berichten zum Teil sogar deutsche Medien von diesem und davon, auf welch originelle Weise man in Japan mit der weltweiten Krise umzugehen weiß. Der Kult um Amabie verdeutlicht erneut wie schwierig es ist, Japan als „religiöse“ Nation zu definieren, bezeichnen sich selbst die meisten Bewohner doch als „nicht religiös“.
Trotzdem und vielleicht gerade deshalb scheint die Figur so beliebt zu sein und wird von japanischen und ausländischen Mangaka und Künstlern als Motiv verwendet und neu interpretiert. Dabei ist man sehr tolerant was die Neugestaltung der Figur und seine Verwendung angeht. Wie mit vielen traditionellen Figuren und Maskottchen lebt Amabie so in den Köpfen und Herzen seiner Betrachter und seiner neuen, kreativen Schöpfer und man möchte hoffen, dass uns Amabie zukünftig umso besser mit ihrer (oder seiner?) magischen Kraft bezaubert und vor allem – beschützt.
Quellen:
- [1] – Shimada, Hiromi (2020): Ekibyō taisan – Nihon no gofu besuto 10 疫病退散~日本の護符ベスト10 („Krankheitsbeseitigung – Japans 10 beste Schutztalismane“), Tōkyō: Cyzo, S. 108.
- [2] – https://www.kinokuniya.co.jp/f/dsg-01-9784808710590
- Poster des Ministeriums für Wohlfahrt und Arbeit
- Erste Amabie-Abbildung
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