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Warazaiku: Die Vielfalt des japanischen Strohhandwerks

Maria-Laura Mitsuoka
Maria-Laura Mitsuoka

Vom Manga-Zeichnen über Origami bis hin zu Ikebana – Japan ist ein Land, das eine große Vielfalt an kreativen Ausdrucksformen hervorgebracht hat. Hierzulande weniger bekannt, aber für die japanische Kultur nicht minder bedeutsam, ist Warazaiku, die Kunst des Strohhandwerks, welche auf eine lange Geschichte zurückblickt.

Warazaiku
Warazaiku ist eine vielseitige Kunstform, die von Neujahrsdekorationen aus Reisstroh bis hin zu Tierfiguren und Puppen reicht. ©takara (photo-ac)

Die Geschichte des Strohhandwerks lässt sich weit zurückverfolgen und geht wahrscheinlich mit dem Beginn des Reisanbaus einher. Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass der Reisanbau in Japan vermutlich in der späten Jōmon-Zeit (ca. 12.000-2.500 v. Chr.) aus China eingeführt wurde und sich in der folgenden Yayoi-Zeit (bis ca. 250 n. Chr.) rasch im ganzen Land verbreitete. Stroh entstand dabei als Nebenprodukt, nachdem der Reis geerntet und gedroschen wurde. Anders als in der heutigen Gesellschaft, wo Stroh hauptsächlich als Viehfutter gebraucht oder entsorgt wird, fand es im alten Japan auf vielfältige Weise Verwendung. So diente es als Brennstoff für Feuerstellen oder als Dachmaterial für Kayabuki-Dächer (Reetdächer), außerdem wurde es zur Verstärkung der Lehmwände von Häusern genutzt. Stroh war aber auch ein fester Bestandteil des Alltags, denn es kam nicht nur bei der Herstellung von Haushaltsgegenständen wie Besen zum Einsatz, sondern auch bei der Anfertigung von Werkzeug für religiöse Zeremonien, Hochzeiten, Beerdigungen, Spielzeugen und Kunstwerken.

In einigen ländlichen Regionen Japans können auch heute noch aus Stroh gefertigte Gegenstände bewundert werden. Hier hängt zum Beispiel ein Mino-Mantel neben anderen in der Landwirtschaft verwendeten Utensilien. ©ゆるまる (photo-ac)

Vielfältige Verwendungszwecke

Warazaiku ist ein aufwendiges Kunsthandwerk, das mit dem Ernten des Reises und dem Trocknen der Strohstränge beginnt. Besonders geeignet ist auch heute noch das Sasanishiki-Reisstroh aus der Präfektur Miyagi, da es ausgesprochen flexibel und leicht zu verarbeiten ist. Je nach Objekt, das man herstellen möchte, werden die einzelnen Stränge gedreht, gewickelt, miteinander verwoben oder verflochten. Die Produktpalette erstreckt sich von bandori (Rucksäcke, die bei der Feldarbeit getragen werden), enza (runde Kissen), Wandteppichen, Strohbürsten bis hin zu Körben für kleine Kinder oder Katzen.

Stroh war neben den traditionellen Textilien außerdem ein bewährtes Material für die Anfertigung von Kleidung und Accessoires. Am bekanntesten sind wohl die zōri genannten Strohsandalen, die auch heute noch als ein populäres Souvenir gelten. In der Regel besaß eine Person einen Jahresvorrat von zehn zōri, der von der ganzen Familie hergestellt wurde. In den verschneiten Gebieten von Yamagata, Akita und Niigata wurden darüber hinaus kanjiki (Schneestiefel) getragen, um auf schneebedeckten Wegen zu gehen ohne einzusinken. Strohmäntel, mino genannt, erfreuten sich ebenfalls großer Beliebtheit. Ursprünglich in der bäuerlichen Bevölkerungsschicht verbreitet, kamen sie ab dem 13. Jahrhundert auch bei den Kriegern in Mode und erwiesen sich aufgrund ihrer Regenfestigkeit als ideale Wanderkleidung. In den Präfekturen Nordjapans wurden kunstvoll verzierte mino zudem bei Hochzeiten getragen und jungen Frauen als Mitgift überreicht, wenn sie in das Haus ihres Gatten einzogen.

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Leicht zu verwechseln mit dem mino ist der kera, ein ärmelloser Mantel, der viel Bewegungsfreiheit bot. Er eignete sich besonders gut für die Feldarbeit, kam aber auch bei anderen Gelegenheiten zum Einsatz. So wurden Exemplare mit aufwendig verzierten Kragen auch als Festtagskleidung bei Hochzeiten und anderen Feiern getragen. Für Kinder fertigte man übrigens die minobocchi an, einen Mino-Mantel mit einer spitzen, reich verzierten Kapuze. Leider geraten diese Kleidungsstücke allmählich in Vergessenheit – aber einige traditionelle Haushalte, vor allem in der Stadt Yokote (Präfektur Akita), setzen ihren Kindern zum Schneefest, das am 15. und 16. Februar stattfindet, nach wie vor minobocchi auf. Diese werden außerdem beim Bau von kamakura getragen, Iglu-artigen Schneehütten, die man zu Ehren des Gottes Oshizusama während des Schneefestes errichtet.

Die kamakura werden auch heute noch in der Stadt Yokote anlässlich des Schneefestes errichtet. Im Inneren befindet sich ein kleiner Schrein, der dem Gott Oshizusama huldigt. ©nakako35 (photo-ac)

Stroh als Symbol der Göttlichkeit

Wer schon einmal in Japan war, wird festgestellt haben, dass Stroh vor allem in einem spirituellen Kontext verwendet wird, zum Beispiel für Neujahrsdekorationen oder shimenawa (heiliges Seil, wahrscheinlich Abkürzung von shiri-kume-nawa) an Schreinen. In diesem Zusammenhang kommt dem Material die Aufgabe zu, die Welt der Götter von der irdischen Sphäre zu trennen. Außerdem markieren die shimenawa die Wohnorte der kamisama (Gottheiten) und symbolisieren eine göttliche Macht. Shimenawa haben eine lange Geschichte und werden bereits in den ältesten japanischen Schriftwerken Kojiki (ca. 712 n. Chr.) und Nihonshoki (ca. 720 n. Chr.) erwähnt. Sie kommen in der Erzählung vor, in der sich die Sonnengöttin Amaterasu aus Zorn in eine Höhle zurückzieht, nachdem ihr Bruder Susanoo eine ihrer Dienerinnen getötet hat. Da ihr Licht die Erde daraufhin nicht mehr erreichen konnte, versuchten zahlreiche Götter, sie mit Tänzen und Lockrufen wieder an die Oberfläche zu bringen. Nachdem dieser Versuch glückte und die Neugier von Amaterasu siegte, spannte der Gott Fudotama-no-Mikoto ein Shiri-kume-nawa-Seil vor den Eingang, um die Höhle zu versiegeln und zu verhindern, dass sie sich jemals wieder zurückziehen kann. Forschende sehen das shiri-kume-nawa als Vorbild für das im heutigen Japan verwendete shimenawa.

Heilige Seile, oder auch shimenawa, sind aus Reisstroh gefertigt und symbolisieren göttliche Orte. ©dsuke999 (photo-ac)

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Ähnliche Seile findet man auch im Sumō-Kampfsport, der eng mit dem japanischen Shintō-Glauben verbunden ist. Diese werden von den Yokozuna, den ranghöchsten Kämpfern, in Form einer prächtigen Schürze getragen. Eine weitere Verbindung zwischen Stroh und Göttlichkeit findet sich auch in den großen Strohpuppen-Gottheiten von Tōhoku, die bis zu fünf Meter groß sein können. Diese werden ningyō dōsojin genannt und an Dorfeingängen aufgestellt, um Unglück abzuwehren und die Gemeinschaft vor Krankheiten und Naturkatastrophen zu schützen.

Der Strohpuppengott Kashimasama steht am Eingang eines Dorfes in der Präfektur Akita und schützt die Gemeinde vor Gefahren. ©Tokkuri (photo-ac)

Bis heute erfüllt Stroh also eine wichtige Funktion. Es ist nicht nur ein Nebenprodukt des Reisanbaus, das im historischen Japan für Alltagsgegenstände und zur Herstellung von Kleidung verwendet wurde, sondern spielt auch eine aktive Rolle im spirituellen Bereich und dient als Symbol für die Götter. Stroh scheint außerdem einen Bezug zum Leben nach dem Tod aufzuweisen: So wird es beispielsweise während des O-Bon-Festes beim Begrüßungs- und Abschiedsfeuer für die Ahnen verbrannt. Einige Forschende kommen daher zu dem Schluss, dass Stroh nicht nur ein Zeichen der Göttlichkeit sei, sondern auch den Kreislauf des Lebens symbolisiere. Ein Gedanke, der heutzutage auch von Umweltorganisationen in Recyclingprojekten oft aufgegriffen wird.

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