Woran denken Japaner, wenn sie an die professionellen Geschichtenerzähler rakugo-ka denken? Vielleicht kommt ihnen die Fernsehsendung Shōten in den Sinn, bei welcher fünf Rakugo-Erzähler in einer Reihe auf Kissen knien und darum kämpfen, die beste Pointe von sich zu geben. Die Sendung wurde 1966 erstmals ausgestrahlt und läuft seit 1967 jeden Sonntagabend regulär. Auch nach 50 Jahren erreicht Shōten immer noch Einschaltquoten von 20 % und zeugt von der andauernden Beliebtheit des pointierten Geschichtenerzählens. Auf der Bühne sitzen rakugo-ka allerdings nicht zu fünft in einer Reihe, sondern alleine. Auf einem Kissen kniend und in Kimono gekleidet geben sie Geschichten zum Besten. Diese können jahrhundertealte Erzählungen sein, aber auch Eigenkreationen werden dargeboten.
Die Geschichten spielen traditionell in der Edo-Zeit (1603–1868), die auch in Deutschland etwa durch die Filme Kurosawa Akiras bekannt ist. Zu dieser Zeit herrschte in Japan eine strenge gesellschaftliche Vier-Klassen-Hierarchie der Krieger, Bauern, Handwerker und Händler. Die ersten Rakugo-Darsteller waren vermutlich Handwerker, die abends nach der Arbeit mit der Erzählung komischer Geschichten für Unterhaltung sorgten. Mit wachsender Beliebtheit der Darsteller und ihrer Darbietungen gaben sie das Handwerk auf und widmeten sich ganz der Kunst des Geschichtenerzählens. Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden auch die ersten yose-Theater, die den Rakugo-Erzählern eine Bühne boten, errichtet.
Der Zauber von Rakugo – von Generation zu Generation weitergegeben
Anders als Märchen werden die Geschichten bei Rakugo nicht in der dritten Person, sondern in Dialogform erzählt. Dabei setzen die Erzähler unterschiedliche Stimmen ein und differenzieren durch das Wenden des Kopfs zwischen den Figuren. In Sekundenschnelle verwandeln die rakugo-ka sich so in einen anderen Charakter. Mit einem Fächer (sensu) und einem Stofftaschentuch (tenugui) ausgestattet, erwecken die rakugo-ka ihre Geschichten zum Leben. Wer einmal einen Rakugo-Meister in Aktion gesehen hat, wird eine Anekdote um den legendären rakugo-ka Enkyō nicht anzweifeln: Während einer Vorstellung stellte Enkyō eine Regenszene so lebhaft dar, dass ein Zuschauer im Theater einen Regenschirm aufspannte.
Die Rakugo-Gilde zieht seit Jahrhunderten ihre Lehrlinge groß und sichert zugleich die Qualität der Erzählkunst. Die Geschichten werden von Generation zu Generation weitergegeben. Ein Lehrling darf eine neu erlernte Geschichte jedoch erst mit der Erlaubnis des Meisters aufführen, der ihm die Geschichte beibrachte.
Harte Lehrjahre für Schüler und Meister
Schauspieler des Kabuki-Theaters werden größtenteils in Kabuki-Familien und somit in den Beruf hineingeboren. Im Rakugo kann theoretisch jeder ein Meister werden, vorausgesetzt er oder sie durchsteht die harten Lehrjahre. Vor Beginn der Ausbildung suchen sich Interessierte einen Meister (shin’uchi) und bitten diesen um die Aufnahme als Lehrling. Jeder Meister darf eigene Lehrlinge ausbilden, doch auch für den Meister ist dies nicht immer leicht. Sumōringer erhalten von der Sumōvereinigung ein Ausbildungsgeld für die Erziehung der Nachwuchsringer.
Rakugo-Meister erhalten keinerlei finanzielle Unterstützung für die Ausbildung. Es wird jedoch von ihnen erwartet, den Schüler mit Kost während der Lehrjahre zu versorgen. Früher wohnten die Schüler auch bei ihren Meistern, heute zumindest in derselben Nachbarschaft. Schon früh morgens wird von den Lehrlingen erwartet, zum Frühstück und Hausputz beim Meister zu erscheinen. Das Putzen an sich ist zwar nicht Teil der Ausbildung zum Geschichtenerzähler, verdeutlicht aber die Hierarchie zwischen Schüler und Meister und die notwendige Bereitschaft der Lehrlinge, den Befehlen des Meisters Folge zu leisten.
Während der Ausbildung begleiten die Lehrlinge den Meister zu allen seinen Veranstaltungen und unterstützen diesen mit diversen Aufgaben. Sie tragen seinen Koffer, helfen ihm, den Kimono an- und abzulegen und übernehmen in den yose-Theatern die Aufgaben der europäischen Bühnenarbeiter: Vom Putzen der Garderobe und der Bühne, über das Versorgen der Darsteller mit Getränken bis zur Mithilfe bei der Programmreihenfolge – all dies liegt im Aufgabenbereich der Lehrlinge. Sie lernen, Verantwortung zu übernehmen und das Arbeitsumfeld im Rakugo-Theater kennen. Allein durch die langen Anwesenheitszeiten bei Vorstellungen nehmen sie das umfassende Repertoire der Rakugo-Geschichten auf, sodass sie die Geschichten oftmals schon nach ein oder zwei Textzeilen identifizieren können.
Rakugo in Ōsaka: Agenturdarsteller und Musikbegleitung
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Beruf des rakugo-ka vor allem in Ōsaka beinahe ausgestorben. Als dort im Jahr 1957 die Kamigata Rakugo Vereinigung
gegründet wurde, hatte sie lediglich 18 Mitglieder. Dank den Anstrengungen von Rakugo-Meister Katsura Beichō III. (1925-2015) konnte die Kunst des Rakugo in Ōsaka wiederbelebt werden. Er bemühte sich, eine neue Darstellergeneration großzuziehen und nahm über 20 Lehrlinge auf. Diese wiederum haben inzwischen über 50 eigene Lehrlinge. Er gab der Unterhaltungsform neuen Aufwind und für seine Verdienste wurde er 1996 von der japanischen Regierung zum Lebenden Nationalschatz ernannt. 1980 stieg die Zahl der Mitglieder auf 100, heute gibt es in Ōsaka etwa 250 rakugo-ka.
In ihrer Vorstellung unterscheiden sich Darsteller aus Ōsaka leicht von ihren Tōkyōter Kollegen. Ōsaka-Rakugo wird oft von Zupf-, Blas- und Schlaginstrumenten, die während dem Erzählen für die richtige Stimmung und Atmosphäre sorgen, begleitet. Vor Künstlern aus Ōsaka stehen ein kleiner Tisch und ein Brett, das die Tischöffnung verdeckt. Mit dem sogenannten kobyōshi– Holzstab schlagen sie auf den Tisch, um Ereignisse in der Geschichte oder bestimmte Zitate hervorzuheben.
Im Gegensatz zu Tōkyō sind viele der Darsteller in der Kansai-Region vertraglich an Agenturen gebunden, die ihnen Auftritte in Theatern, im Fernsehen und im Radio vermitteln. In der Handelsstadt Ōsaka entscheiden somit neben dem schauspielerischen Talent der Darsteller vor allem auch Privatunternehmen über den Erfolg der rakugo-ka. In Tōkyō hingegen ist die Mehrheit der Darsteller freiberuflich tätig. Einige der bekannteren Erzähler haben einen Manager, aber viele der berühmten rakugo-ka verwalten ihre Auftritte selbst.
Erst seit 2006 hat Ōsaka wieder ein eigenes yose-Theater, das Temma Tenjin Hanjō-tei. Das Gebäude symbolisiert wohl am besten die Verbindung von Ōsaka und Rakugo: Der Bau des Theaters wurde durch Spenden der Bürger ermöglicht – 60 Jahre nach der Schließung des letzten Ōsakaer yose-Theaters.
Dieser Text wurde von Clara Kreft für die April 2018-Ausgabe des JAPANDIGEST verfasst und für die Veröffentlichung im Printmagazin und auf der Webseite nachbearbeitet. Eine Übersicht über weitere Artikel finden Sie hier:
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