Hiroshima Kagura: Gelebte Tradition in der Friedensstadt

Diana Casanova
Diana Casanova

Mitten im Stadtzentrum Hiroshimas haben Touristen die Gelegenheit, eine echte regionale Kulturerfahrung zu machen – und das für wenig Geld sowie mit englischer Übersetzung: Hiroshima Kagura ist eine alte darstellende Kunst, die mythische Legenden in Form von energiegeladenen Tänzen und Musik erzählt.

Szene des Hiroshima Kagura-Stückes "Yamata no Orochi", aufgeführt von der Yoshiwa Kagura-Truppe: Der Sturmgott Susanoo kämpft gegen das achtköpfige Schlangenmonster.
Szene des Hiroshima Kagura-Stückes "Yamata no Orochi", hier aufgeführt von der Yoshiwa Kagura-Truppe aus Hatsukaichi. © 2024 Hiroshima Prefectural Citizens Culture Center

Es ist bereits dunkel an diesem Mittwoch im November, doch die Neonschilder und Ladenbeleuchtungen erhellen die 577 m lange Hondōri, eine von Hiroshimas größten und belebtesten Einkaufsmeilen, ganz in der Nähe des berühmten Friedensparks. Ich verlasse das riesige Kaufhaus SOGO Hiroshima und spaziere in Richtung der nur wenige 100 m entfernten Hondōri, als ich Trommelschläge und laute Rufe höre. Auf dem Vorplatz eines großen, modern wirkenden Gebäudes haben sich zahlreiche Schaulustige versammelt. Vor allem ausländische Touristen sehe ich, die aufgeregt ihre Smartphones in die Höhe halten, aber auch viele neugierige Japanerinnen und Japaner. Zwei Gestalten in prunkvollen, goldverzierten Kostümen und mit überdimensionierten Dämonenmasken bewegen sich elegant zu den rhythmischen Klängen von Taiko-Trommeln und Handbecken, die ein paar Meter hinter ihnen von drei Musikern gespielt werden. Es ist nur eine kleine Kostprobe, um die Schaulustigen zu einem spontanen Besuch der heutigen Hiroshima Kagura-Vorstellung im Hiroshima Prefecture Citizen‘s Culture Center zu motivieren. Doch beginnen wir von vorne: Was ist eigentlich Kagura?

Hiroshima Kagura Tsuchigumo
Hiroshima Kagura zeichnet sich durch ausladene Kostüme und aufregende Tänze aus. Hier zu sehen ein Auszug aus dem Stück "Tsuchigumo", aufgeführt von der Kinshō Kagura-Truppe aus Kitahiroshima. © 2024 Hiroshima Prefectural Citizens Culture Center

Tanz für die Götter

Kagura, (神楽, zusammengesetzt aus den Schriftzeichen für „Gott“ und „Unterhaltung“) bezeichnen uralte shintoistische Tänze und Musik. Sie sollen ihren Ursprung in der japanischen Mythologie haben und wurden oft im Herbst von Miko, weiblichen Schrein-Bediensteten, aufgeführt, um den Göttern für eine gute Ernte zu danken. Kagura gehört zu den ältesten darstellenden Künsten und im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich im ganzen Land zahlreiche unterschiedliche Stile. Derzeit sind 38 Kagura-Tänze von der japanischen Regierung (sowie einige von der UNESCO) als Wichtiges Immaterielles Kulturgut anerkannt.

Die Präfektur Hiroshima ist Heimat einer aktiven Kagura-Szene: Deren Wurzeln sollen in der benachbarten Präfektur Shimane liegen, als zum Ende der Edo-Zeit (1603-1868) Kagura in der Geihoku-Region im Nordwesten Hiroshimas eingeführt wurde. Dort entwickelte sich eine einzigartige Form des Göttertanzes, genannt Geihoku Kagura, die sich durch riesige Masken und ausladende Kostüme auszeichnet. Jedes dieser Kostüme wird sorgfältig von Hand gefertigt und kann bis 20 kg wiegen. Während sich in anderen Regionen der Präfektur Hiroshima weitere Stile herausgebildet haben, ist Geihoku Kagura der wohl bekannteste und in Japan gemeinhin als „Hiroshima Kagura“ bekannt. Es handelt sich dabei nicht nur um einfache Tänze zu traditioneller Musik, sondern sie erzählen stets eine Geschichte; oft eine berühmte Legende der japanischen Mythologie, die vom Kampf zwischen Gut und Böse handelt.

Ein Ausschnitt aus "Momijigari", aufgeführt von der Ōmori Kagura-Truppe aus Hiroshima
Ein Ausschnitt aus "Momijigari", aufgeführt von der Ōmori Kagura-Truppe aus Hiroshima. © 2024 Hiroshima Prefectural Citizens Culture Center

Besonderheiten des Hiroshima Kagura

Das Innere des Citizen‘s Culture Center ist voller Menschen und die lange Schlange vor dem Ticketschalter beweist, dass die Showeinlage ihre Wirkung gezeigt hat. Im Foyer ist eine große Schlangenfigur ausgestellt – ein wichtiges Requisit für eines der eindrucksvolleren Kagura-Stücke, „Yamata no Orochi“, bei dem der Gott Susanoo ein achtköpfiges Schlangenmonster erlegen muss. Wöchentlich steht ein anderes Stück auf dem Programm und auch die Kagura-Truppen rotieren durch (eine englische Übersicht aller Stücke finden Sie hier). Während sich manche im 2024-Programm wiederholten, gab es keine einzige Truppe, die zweimal zu Gast war – ein Zeichen dafür, wie sehr die Kagura-Tradition in Hiroshima weiterlebt. In der ganzen Präfektur soll es sogar über 150 Kagura-Truppen geben.

Das Schlangenmonster Yamata no Orochi aus dem gleichnamigen Kagura-Stück.
Das Schlangenmonster Yamata no Orochi aus dem gleichnamigen Kagura-Stück. © Hiroshima Tourism Association

Ich begebe mich ins Theater, wo japanisch- und englischsprachige Flyer ausgeteilt werden. Diese erklären nicht nur Hiroshima Kagura im Allgemeinen, sondern fassen auch die Handlung des Stückes zusammen. Bevor es losgeht, betreten zwei Moderatorinnen die Bühne, die auf Japanisch sowie auf Englisch durch den Abend führen würden. Sie erzählen uns, dass sich Hiroshima Kagura in zwei Gruppen aufteilen lässt: shin-mai (entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg) und kyū-mai (entstanden vor dem Zweiten Weltkrieg). Shin-mai charakterisieren sich durch ein schnelles musikalisches Tempo, während kyūmai mit deutlich langsamerer Musik begleitet wird. Die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne sind meistens zu viert, zwei Taiko-Trommeln, ein Handbecken und eine Kagura-Flöte – doch ein Notenblatt sucht man vergeblich. Die Musik, wie auch die Dialoge der Schauspieler, werden nach Gehör (und natürlich mit viel Übung) gespielt und ausschließlich oral von Generation zu Generation weitergegeben. Kostümwechsel während des Tanzens sowie Requisiten sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Aufführungen. So kommen je nach Stück Nebelmaschinen, Papierluftschlangen und sogar kleines Feuerwerk zum Einsatz, um etwa Spinnweben oder feuerspeiende Dämonen darzustellen.

"Tsuchigumo"
"Tsuchigumo" basiert auf einem alten Nō-Theaterstück, das vom Kampf gegen einen Spinnengeist handelt. © 2024 Hiroshima Prefectural Citizens Culture Center

Ein Kampf der Zauberer

Am heutigen Abend steht „Takiyasha-hime“ auf dem Programm, aufgeführt von der Nakabara Kagura-Truppe aus Kitahiroshima. Diese wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von Freiwilligen gegründet, als sie die aus der Yakami-Region (Präfektur Shimane) überlieferten Tänze erlernten. Das Stück handelt von der Tochter des Taira no Masakado, einem Militärführer aus der Heian-Zeit (794-1185), der gegen den Kaiser rebellierte und am Ende getötet wurde. Satsuki-hime begibt sich zum Kifune-Schrein in Kyōto und betet für magische Kräfte, damit sie den Tod ihres Vaters rächen kann. Die Götter haben Mitleid mit ihr und verwandeln sie in eine mächtige dämonische Zauberin. Sie nennt sich fortan Takiyasha-hime und umgibt sich loyalen Kriegern, um den kaiserlichen Hof anzugreifen. Letzterer schickt den ebenso mächtigen Zauberer Mitsukuni los, der sich Takiyasha-hime in einem Kampf auf Leben und Tod stellt.

Takiyasha-hime mit ihren Soldaten - ihre Verwandlung zum Dämon ist bereits im vollen Gange. Hier aufgeführt von der Kaminaka Chōshi Kagura-Truppe aus Hiroshima. © 2024 Hiroshima Prefectural Citizens Culture Center

Es ist eine berühmte japanische Legende, die auch schon von Ukiyoe-Künstlern und in Kabuki-Theatern aufgegriffen wurde. Als Kagura-Stück zählt es zum temporeichen shin-mai-Stil – etwas, dass uns Zuschauenden schnell deutlich werden würde. Die vier Musikerinnen und Musiker beginnen zu spielen, als Satsuki-hime die Bühne betritt und mit lauter Stimme ihre Beweggrüne für die Reise nach Kyōto erklärt. Die Frauenrolle wird von einem Mann gespielt, wie es in fast allen traditionellen japanischen Theaterformen der Fall ist. Die Dialoge sind selbstverständlich auf (klassischem) Japanisch gehalten – doch das soll ausländische Gäste nicht von einem Besuch abhalten. Über der Bühne befindet sich eine Leinwand, in der in Echtzeit englische Übersetzungen angezeigt werden. Da es nicht allzu viele Dialoge gibt, lenkt das Nach-Oben-Schauen nicht von der Action auf der Bühne ab, zumal Text und Tanzeinlagen eher im Wechsel stattfinden.

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Die Tanzeinlagen sind auch weniger Tänze, als dass sie Reisen und Scharmützel repräsentieren: Als Mitsukuni und seine Gefolgschaft auf Takiyasha-himes Schergen treffen, zücken sie ihre Waffen und bewegen sich zu einer temporeichen Melodie im Kreis. Waren ihre Kostüme schon zu Beginn ausladend, lösen die Tänzer beim Drehen mit geschickten Handgriffen eine Halterung – und plötzlich sind sie in prunkvollen goldenen und roten Gewändern gekleidet, der Höhepunkt des Kampfes. Die Schergen unterliegen, und die Zauberin muss selbst ran. Mittlerweile ist ihr Gesicht zu einer hässlichen Dämonenfratze mutiert. Es kommt noch einmal zur heftigen Schlacht: Die Tänzer wirbeln umher, greifen einander an und weichen aus, die Musik wird immer schneller. Doch am Ende unterliegt Takiyasha-hime, ihr Rachefeldzug bleibt unvollendet. Mit markanten Worten ruft Mitsukuni seinen Triumph aus und das Stück endet mit einem letzten glorreichen Tanz.

Für ausländische Gäste werden in Echtzeit englische Übersetzungen des Gesprochenen angezeigt. © D. Casanova
Die Zauberin Takiyasha-hime wird besiegt - hier aufgeführt von der Yoshida Kagura-Truppe aus Akitakata
Die Zauberin wird besiegt - hier aufgeführt von der Yoshida Kagura-Truppe aus Akitakata. © 2024 Hiroshima Prefectural Citizens Culture Center

Tradition zum Anfassen

Ich bin wie in Trance, als die Vorführung nach ca. 45 Minuten endet. Die Moderatorinnen bitten nun alle, die Lust haben, auf die Bühne zu kommen, um mit den Darstellern kostenlose Erinnerungsfotos zu schießen. Die Zuschauenden teilen sich in drei Gruppen auf, um mit der verwandelten Takiyasha-hime, mit ihren Soldaten oder mit Mitsukunis Truppe zu posieren. Ich verzichte dieses Mal auf ein Foto, aber neugierig schaue ich noch ein wenig zu. Zuvor erzählte man uns, dass es sich bei den Kagura-Darstellern fast ausschließlich um Ehrenamtliche handelt. Neben Arbeit oder Schule finden sie mehrmals in der Woche Zeit zu proben und an Events wie diesen teilzunehmen. Doch es ist eine aussterbende Kunst: Es finden sich immer weniger Interessierte oder gar Nachfolger, die Kagura praktizieren möchten – ein Problem, das die Zukunft sehr vieler japanischer Traditionen bedroht. Umso beeindruckender ist es zu sehen, wie leidenschaftlich sich dafür eingesetzt wird, Hiroshima Kagura auch für ausländische Gäste zugänglich zu machen und die Kunst am Leben zu erhalten.

Noch während ich das Gebäude verlasse, vorbei am kleinen Souvenirshop und Getränkeautomaten mit Kagura-Motiven, überkommt mich das Gefühl, dass ich Teil eines besonderen Erfahrung wurde, die ich so schnell nicht mehr erleben werde. Auch wenn es eine vergleichsweise kurze Vorstellung war: Wer zufällig an einem Mittwochabend im Zentrum Hiroshimas unterwegs ist und eine Stunde Zeit hat, sollte sich dieses einmalige Kulturerlebnis auf keinen Fall entgehen lassen.

Das Hiroshima Prefecture Citizen's Culture Center. © 2024 Hiroshima Prefectural Citizens Culture Center

Anfahrt und Ticketkauf

2025 finden Kagura-Vorstellungen vom 2. April bis 24. Dezember (immer mittwochs um 19 Uhr) im Hiroshima Prefecture Citizen‘s Culture Center statt.

Tickets kosten an der Tageskasse voraussichtlich 1.500 Yen, können aber auch online über Tripadvisor oder Klook bzw. über japanische Ticketanbieter wie tabiwa und Ticket Pia (チケットぴあ) im Voraus gebucht werden.

Die Veranstaltungshalle ist ca. 3 Gehminuten von der Straßenbahnstation Hondōri oder Kamiyachō-nishi entfernt, vom Bahnhof Hiroshima dauert die Fahrt ca. 15 Minuten. Vom Friedenspark sind es zu Fuß ca. 5 Minuten.


Mehr Informationen um die Sehenswürdigkeiten Hiroshimas finden Sie auf dem offiziellen Tourismusportal Dive! Hiroshima: 

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