Die Ursprünge der japanischen Poesie gehen auf die Nara-Zeit (710-794) zurück. Der Gedichtband man‘yōshū (万葉集) aus dem 8. Jahrhundert ist die älteste Sammlung japanischer Gedichte. In der darauffolgenden Heian-Zeit (794–1185) stand Japan in kultureller Hinsicht unter großem Einfluss der chinesischen Tang-Dynastie. Die chinesische Poesie wurde von der japanischen Elite sehr geschätzt und so wurden die Gedichte in dieser Zeit durchweg in chinesischer Sprache verfasst. Man nennt sie kanshi (漢詩, chinesisches Gedicht).
Japanische Lyrik und Entstehung der Haikus
Erst in der zweiten Hälfte der Heian-Zeit begann man dann japanischsprachige Gedichte zu schreiben. Um sie klar von ihren chinesischsprachigen Pendants zu unterschieden, gab man ihnen den Namen waka (和歌, japanisches Gedicht). Waka ist mittlerweile ein Sammelbegriff für verschiedene japanische Lyrik-Stilrichtungen. Unter ihnen erfahren Haikus heutzutage bei weitem die größte Popularität, und das nicht nur in Japan, sondern auch zunehmend im Ausland. Haikus entwickelten sich aus der prominentesten der klassischen waka-Gedichtgattungen, den tanka (短歌, Kurzgedicht). Reime waren übrigens im Gegensatz zur deutschen Lyrik nie ein Bestandteil der japanischen Dichtung.
Aufbau und Form des Haikus
Haikus sind sehr kurze Gedichte. Sie überraschen den Leser oft durch ein kireji („einschneidendes Wort“), ein Wort, dass das Haiku durch eine subtile Spannung unterbricht oder ein Gefühl des Staunens oder der Überraschung am Ende des Gedichts hinterlässt.
Um als Haiku zu gelten, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Die erste ist eine feste Anzahl an (japanischen) Silben, mit einem Aufbau von 5-7-5 Silben. Traditionell werden diese Silbenreihen vertikal untereinander geschrieben. Die zweite Bedingung ist das Vorhandensein eines sogenannten Jahreszeitenwortes, dem kigo (季語, Jahreszeitenwort). Damit wird versucht, mit nur einem einzigen Wort eine Assoziation mit einer bestimmten Jahreszeit herzustellen und damit eine ganz konkrete Stimmung innerhalb einer Momentaufnahme zu erzeugen. Doch was genau ist ein kigo?
kigo – Wörter der Jahreszeiten
Der Wechsel der Jahreszeiten ist in Japan ein wichtiger und fester Bestandteil des Lebens und der Kultur. Die Darstellung der Jahreszeit ist daher ein wichtiges Kernelement der japanischen Lyrik. Schon das man‘yōshū verfügt über eine große Sammlung an Gedichten, die nur den Jahreszeiten gewidmet sind. Ein kigo ist ein einzelnes Wort, welches vermag, einen starken Bezug zu einer Jahreszeit herzustellen. Beispiele hierfür sind die Kirschblüte für den Frühling, Sonnenstrahlen für den Sommer, rotes Herbstlaub für den Herbst oder Schnee für den Winter.
Ein kigo kann ein Wort aus verschiedensten Kategorien sein wie beispielsweise Wetter, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Bräuche aber auch alltägliche Gegenstände. So kann in modernen Haikus der Ventilator durchaus als sommerliches kigo durchgehen.
Online kann man übrigens auf unzähligen Seiten gezielt nachschlagen, welches kigo mit welcher Jahreszeit assoziiert wird. Dabei sind die Wörter für Nicht-Japaner nicht immer auf den ersten Blick einer bestimmten Jahreszeit zuzuordnen. Ein Beispiel hierfür ist yūdachi (夕立, Abendschauer), das ein Sommer-kigo ist.
夕立や カエルの面に 三粒ほど | Yūdachi ya kaeru no tsura ni mitsubu hodo | Sommerregen auf dem Gesicht eines Frosches Drei Wassertropfen |
[Masaoka Shiki (1867-1902), eigene Übersetzung]
Berühmtester Vertreter: Matsuo Bashō
Bekannte Haiku-Dichter waren unter anderem Masaoka Shiki, Yosa Buson, Kobayashi Issa aber auch Natsume Sōseki. Der mit Abstand berühmteste unter ihnen ist jedoch Matsuo Bashō (1644-1694). Er wurde in eine Samurai-Familie geboren, doch die für ihn vorgesehene militärische Laufbahn widerstrebte ihm. Stattdessen widmete er sich zeitlebens der chinesischen und japanischen Poesie, war ein Anhänger der Zen-Meditation und unternahm viele Wanderungen quer durch das ganze Land. Der Einfluss des Zen-Buddhismus ist deutlich in seinen Haikus zu spüren, denn sie sprühen eine einfache und geradezu meditative Anmut aus.
Zum Großteil ist die Natur der Schauplatz seiner Haikus, denn seine zahlreichen Wanderungen inspirierten ihn zu seinen Werken. Seine berühmteste Wanderung durch den Norden Japans, festgehalten in seinem Reisetagebuch oku no hosomichi (奥の細道, „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“), ist heute ein Klassiker der japanischen Literatur und enthält zahlreiche berühmte Haikus. Dort beschreibt er seine Reise zu Fuß auf rund 2.400 km durch Japans nördliche Provinzen, die insgesamt 156 Tage dauerte und ihn in die Tradition der wandernden Dichter-Priester einreihte. Dieses Werk gibt es übrigens auch in deutscher Übersetzung.
Am Ende dürfen einige Beispiele seiner Haikus nicht fehlen. Viel Spaß!
猪も 共に吹かるる 野分かな | Inoshishi mo tomo ni fukaruru nowaki kana | Wildschweine sogar werden weggeweht Herbststurm |
父母の しきりに恋し 雉の声 | Chichi haha no shikiri ni koishi kiji no koe | Meinen Vater und meine Mutter vermisse ich stetig Der Ruf eines Fasans |
花の雲 鐘は上野か 浅草か | Hana no kumo kane ha Ueno ka Asakusa ka | Eine Wolke aus Kirschblüten Eine Tempelglocke, aus Ueno? Oder Asakusa? |
古池や 蛙飛び込む 水の音 | Furuike ya kawazu tobikomu mizu no oto | In einen alten Teich springt ein Frosch Wasserplätschern |
詠むるや 江戸には稀な 山の月 | Nagamuru ya edo ni ha mare na yama no tsuki | Ich rezitiere Gedichte zu dem in Edo seltenen Mond über den Bergen |
[Alle von Matsuo Bashō (1644-1694), eigene Übersetzung]
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