Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Haiku und der Zauber der japanischen Poesie

Natascha Mattern
Natascha Mattern

Haikus - eine japanische Gedichtform- sind kurz und schlicht und doch schaffen sie es, den Leser in den Bann zu ziehen. Diese Einfachheit liegt vielen japanischen Dingen zu Grunde und diese versprühen einen einzigartigen Zauber. Doch was machen Haikus aus und wie sind sie entstanden?

Gedenktafel Haiku
Abbildung 1: Gedenktafel für Matsuo Bashō, einem der berühmtesten japanischen Haiku-Dichter, mit einem Haiku.

Die Ursprünge der japanischen Poesie gehen auf die Nara-Zeit (710-794) zurück. Der Gedichtband man‘yōshū (万葉集) aus dem 8. Jahrhundert ist die älteste Sammlung japanischer Gedichte.  In der darauffolgenden Heian-Zeit (794–1185) stand Japan in kultureller Hinsicht unter großem Einfluss der chinesischen Tang-Dynastie. Die chinesische Poesie wurde von der japanischen Elite sehr geschätzt und so wurden die Gedichte in dieser Zeit durchweg in chinesischer Sprache verfasst. Man nennt sie kanshi (漢詩, chinesisches Gedicht).

Japanische Lyrik und Entstehung der Haikus

Erst in der zweiten Hälfte der Heian-Zeit begann man dann japanischsprachige Gedichte zu schreiben. Um sie klar von ihren chinesischsprachigen Pendants zu unterschieden, gab man ihnen den Namen waka (和歌, japanisches Gedicht). Waka ist mittlerweile ein Sammelbegriff für verschiedene japanische Lyrik-Stilrichtungen. Unter ihnen erfahren Haikus heutzutage bei weitem die größte Popularität, und das nicht nur in Japan, sondern auch zunehmend im Ausland. Haikus entwickelten sich aus der prominentesten der klassischen waka-Gedichtgattungen, den tanka (短歌, Kurzgedicht). Reime waren übrigens im Gegensatz zur deutschen Lyrik nie ein Bestandteil der japanischen Dichtung.

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Aufbau und Form des Haikus

Haikus sind sehr kurze Gedichte. Sie überraschen den Leser oft durch ein kireji („einschneidendes Wort“), ein Wort, dass das Haiku durch eine subtile Spannung unterbricht oder ein Gefühl des Staunens oder der Überraschung am Ende des Gedichts hinterlässt.

Um als Haiku zu gelten, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Die erste ist eine feste Anzahl an (japanischen) Silben, mit einem Aufbau von 5-7-5 Silben. Traditionell werden diese Silbenreihen vertikal untereinander geschrieben.  Die zweite Bedingung ist das Vorhandensein eines sogenannten Jahreszeitenwortes, dem kigo (季語, Jahreszeitenwort). Damit wird versucht, mit nur einem einzigen Wort eine Assoziation mit einer bestimmten Jahreszeit herzustellen und damit eine ganz konkrete Stimmung innerhalb einer Momentaufnahme zu erzeugen. Doch was genau ist ein kigo?

Japan Jahreszeiten
In Japan ist der Unterschied der vier Jahreszeiten sehr stark zu spüren und prägt seit jeher die Künste. © Natascha Mattern

kigo – Wörter der Jahreszeiten

Der Wechsel der Jahreszeiten ist in Japan ein wichtiger und fester Bestandteil des Lebens und der Kultur. Die Darstellung der Jahreszeit ist daher ein wichtiges Kernelement der japanischen Lyrik. Schon das man‘yōshū verfügt über eine große Sammlung an Gedichten, die nur den Jahreszeiten gewidmet sind. Ein kigo ist ein einzelnes Wort, welches vermag, einen starken Bezug zu einer Jahreszeit herzustellen. Beispiele hierfür sind die Kirschblüte für den Frühling, Sonnenstrahlen für den Sommer, rotes Herbstlaub für den Herbst oder Schnee für den Winter.

Ein kigo kann ein Wort aus verschiedensten Kategorien sein wie beispielsweise Wetter, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Bräuche aber auch alltägliche Gegenstände. So kann in modernen Haikus der Ventilator durchaus als sommerliches kigo durchgehen.

Online kann man übrigens auf unzähligen Seiten gezielt nachschlagen, welches kigo mit welcher Jahreszeit assoziiert wird. Dabei sind die Wörter für Nicht-Japaner nicht immer auf den ersten Blick einer bestimmten Jahreszeit zuzuordnen. Ein Beispiel hierfür ist yūdachi (夕立, Abendschauer), das ein Sommer-kigo ist.

夕立や
カエルの面に
三粒ほど
Yūdachi ya
kaeru no tsura ni
mitsubu hodo
Sommerregen
auf dem Gesicht eines Frosches
Drei Wassertropfen

[Masaoka Shiki (1867-1902), eigene Übersetzung]

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Berühmtester Vertreter: Matsuo Bashō

Bekannte Haiku-Dichter waren unter anderem Masaoka Shiki, Yosa Buson, Kobayashi Issa aber auch Natsume Sōseki. Der mit Abstand berühmteste unter ihnen ist jedoch Matsuo Bashō (1644-1694). Er wurde in eine Samurai-Familie geboren, doch die für ihn vorgesehene militärische Laufbahn widerstrebte ihm. Stattdessen widmete er sich zeitlebens der chinesischen und japanischen Poesie, war ein Anhänger der Zen-Meditation und unternahm viele Wanderungen quer durch das ganze Land. Der Einfluss des Zen-Buddhismus ist deutlich in seinen Haikus zu spüren, denn sie sprühen eine einfache und geradezu meditative Anmut aus. 

Eine Statue zeigt Matsuo Bashō im Yamadera-Temple in der Präfektur Yamagata, den er auf seiner Reise besuchte.

Zum Großteil ist die Natur der Schauplatz seiner Haikus, denn seine zahlreichen Wanderungen inspirierten ihn zu seinen Werken. Seine berühmteste Wanderung durch den Norden Japans, festgehalten in seinem Reisetagebuch oku no hosomichi (奥の細道, „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“), ist heute ein Klassiker der japanischen Literatur und enthält zahlreiche berühmte Haikus. Dort beschreibt er seine Reise zu Fuß auf rund 2.400 km durch Japans nördliche Provinzen, die insgesamt 156 Tage dauerte und ihn in die Tradition der wandernden Dichter-Priester einreihte. Dieses Werk gibt es übrigens auch in deutscher Übersetzung.

Am Ende dürfen einige Beispiele seiner Haikus nicht fehlen. Viel Spaß!

猪も
共に吹かるる
野分かな
Inoshishi mo
tomo ni fukaruru
nowaki kana
Wildschweine sogar
werden weggeweht
Herbststurm
父母の
しきりに恋し
雉の声
Chichi haha no
shikiri ni koishi
kiji no koe
Meinen Vater und meine Mutter
vermisse ich stetig
Der Ruf eines Fasans
花の雲
鐘は上野か
浅草か
Hana no kumo
kane ha Ueno ka
Asakusa ka
Eine Wolke aus Kirschblüten
Eine Tempelglocke, aus Ueno?
Oder Asakusa?
古池や
蛙飛び込む
水の音
Furuike ya
kawazu tobikomu
mizu no oto
In einen alten Teich
springt ein Frosch
Wasserplätschern
詠むるや
江戸には稀な
山の月
Nagamuru ya
edo ni ha mare na
yama no tsuki
Ich rezitiere Gedichte zu
dem in Edo seltenen
Mond über den Bergen

[Alle von Matsuo Bashō (1644-1694), eigene Übersetzung]

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