Bis zur Edo-Periode (1608-1868) galten Glaswaren in Japan als Luxusgüter. Doch ab dem 18. Jahrhundert wurde Glas auch als Nutzgeschirr immer beliebter und auch der Berufsstand des Glasmachers breitete sich aus. JAPANDIGEST ist auf den Spuren des traditionsreichen Kunsthandwerks.
Zum Gesprächspartner
Geboren 1972 in Tōkyō, arbeitete Hirota Tatsuro nach dem Universitätsabschluss bei einer Sake-Brauerei. Mit 25 Jahren kündigte er die Arbeitsstelle und studierte ein Jahr an der Pädagogischen Hochschule in Taiwan. 1999 trat er bei Hirota Glas (廣田硝子) ein und ist seit 2007 der 4. Präsident der Firma.
JAPANDIGEST (JD): Bitte erklären Sie uns die Geschichte des Glashandwerks in Japan. Wann und wie begann das Handwerk, wie hat es sich verbreitet?
Hirota Tatsuro (HT): In Japan begann die Herstellung von Essgeschirr erst richtig in der Meiji-Zeit (1868-1912). Während der Taishō-Zeit (1912-1926, in einer konjunkturell guten Phase) wurden Glasprodukte für den Alltag – Essgeschirr und viele andere Dinge – hergestellt. Zwar war die Geschichte des Glashandwerks in Japan noch jung, aber die Japaner mochten neue Dinge und auch gerade deshalb, weil sie auf ihre hoch entwickelte Technik stolz waren, erreichte die Glastechnik ein Niveau, das schließlich andere Länder übertraf.
JD: Hirota Glas wurde 1899 gegründet. Wer war der Gründer? Und wie hat sich die Firma entwickelt? Der wievielte Präsident sind Sie jetzt?
HT: Die Firmengründung erfolgte im Jahr 1899. Mein Urgroßvater, der Firmengründer, kam aus der Präfektur Niigata nach Tōkyō und war vom “Zauber der Glasprodukte” so fasziniert, dass er daraufhin in Tōkyō blieb, das Handwerk der Glasherstellung erlernte und schließlich die Firma Hirota Glas gründete.
Die Firma produzierte Essgeschirr für den Alltag, Flaschen und Gläser für Milch und Bier sowie Industrieglas; sie war in vielen Bereichen tätig. Ich habe gehört, dass damals hauptsächlich Lampen und Lampenschirme für die damals sehr hohe Nachfrage hergestellt wurden.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Massenherstellung von Glas durch Maschinen vorherrschend, aber bei uns läuft es anders. Wir wollten Glas herstellen, das die Sinne der Menschen anspricht und eine Art “Wärme” in den Händen spürbar macht. Nach diesem Motto setzten wir die manuelle Herstellung von Glas bis jetzt konsequent fort. Wir wollen nicht “eine Buddha-Statue herstellen, ohne ihr eine Seele einzuhauen”. Unsere Firma entwirft, produziert und verkauft konsequent nur handgefertigtes Glas.
Ich bin der vierte Präsident und bleibe dem seit über hundert Jahren geltenden Prinzip des “handgefertigten Glases” verpflichtet.
JD: Auf dem Gebiet der Glaskunst ist “Edo-Kiriko” (geschliffenes Glas aus Edo/Tōkyō) bekannt. Was für Eigenschaften hat es? Was macht in der ersten Linie seinen Reiz aus?
HT: Der erste Japaner, der sich an der Herstellung von geschliffenem Glas versuchte, war Kagaya Kyūbei. 1834 (im 5. Jahr der Ära Tenpo) schliff er das Glas mit Schmirgel und probierte die Technik des geschliffenen Glases in Daitenma-cho (Edo) aus.
Warum gab es viele Werkstätten für das geschliffene Edo-Kiriko, in Edo–Shitamachi (der Innenstadt des heutigen Tōkyō)? – Der Hauptbestandteil von Glas ist Kieselstein; dieser kam aus der Präfektur Fukushima mit dem Schiff in die Innenstadt nahe des Flusses Arakawa 荒川.
Die Herstellung des geschliffenen Glases begann im heutigen Bezirk Kōtō, wo die Fracht aus dem Schiff entladen wurde. Ein typisches Muster von Edo-Kiriko ist “Nanako“(kleine Kügelchen, wie Fischeier), aber dieses Muster stammt aus dem England und Irland des 18. und 19. Jahrhunderts. Aus diesen Ländern kamen die vielen Muster zur Verzierung nach Japan; also kann man sagen, die Muster des geschliffenen Glases stammen aus England und Irland. Vor diesem Hintergrund klingt “Kiriko” sehr japanisch, ist aber vom Design her sehr europäisch geprägt.
JD: Welche Vereinigungen des Glashandwerks gibt es in Japan?
HT: Die meisten berühmten japanischen Glashandwerker und Glasdesigner gehören zum Verein Japanisches Glashandwerk (JGAA). Alle drei Jahre stellen die Mitglieder dieses Vereins ihre Werke in der “Japanischen Glas-Ausstellung” aus. Es gibt auch eine Akademie des Japanischen Glashandwerks. Das ist eine Organisation der Forscher und Handwerker/Künstler, die sich für die Forschung und Förderung von Handwerk, Kultur, Geschichte und Archäologie des Glases einsetzen.
JD: Wie läuft z. B. der Herstellungsprozess eines Kunstwerks nach Edo-Kiriko? Wie lange braucht man dafür?
HT: Da die Muster unterschiedlich sind, kann man es nicht allgemein sagen. Das Verfahren läuft so:
- Layout: Zuerst zieht man mit einer Layoutmaschine eine horizontale Linie für das Endmuster und dann eine senkrechte Linie. Es gibt keine Skizze.
- Grobes Schleifen: Zuerst schleift man das größere Muster. Man zeichnet das Muster mit einer rotierenden Schleifscheibe mit Diamantenklinge auf das Glas. Man verwendet verschiedene Klingen je nach Breite, Tiefe und Form des zu schleifenden Musters. Früher verwendete man einen Eisenschneider, aber seit ca. 20 Jahren sind meist Klingen aus Industrie-Diamanten im Gebrauch.
- Drittes Schleifen: Mit dem Diamanten-Schleifstein Nr. 500 schleift man das feinere Muster. Durch die Diamantklinge sind auch komplizierte Muster möglich.
- Rotierender Schleifstein: Auf den rotierenden Schleifstein legt man das Glas, um die grob geschliffene Ebene zu glättern.
- Polieren: Beim Soda-Glas poliert man das Ganze gut mit feinen Steinpartikelchen (Polierpulver) mithilfe einer Holz- oder Riemenscheibe. Man verwendet, je nach Muster, z.T. auch Bürsten oder Tücher zum Polieren. Beim Kristallglas braucht man dieses Verfahren wegen einer speziellen Chemikalienbehandlung nicht.
Fertig!
JD: Welche Materialien benötigen Sie?
HT: Meistens Kalknatronglas. Das ist die Glassrote, die zurzeit am meisten im Gebrauch ist. Man nennt es auch Natronglas; da es preiswert ist, wird es auch für die Herstellung von Glasplatten und Glasflaschen verwendet.
Das Kalknatronglas wird gewonnen, indem man eine Mischung aus Siliciumdioxid (SiO2), Natriumkarbonat (Na2CO3) und Kalziumkarbonat (CaCO3) schmilzt. Durch das Zufügen von Natriumkarbonat wird der Schmelzpunkt auf fast 1000 C° gesenkt, dadurch ist das Material leichter zu verarbeiten. Aber durch das Natriumkarbonat entsteht Natriumsilikat, was das Material wasserlöslich werden lässt. Um das zu vermeiden, fügt man Kalziumkarbonat hinzu.
Meistens gibt es keine Farbe auf dem Glas. Aber man kann das Glas färben. Dafür verwendet man Metalloxid als Farbstoff im Glas. Mit diesem Farbstoff verändert sich bei Änderung der Glasbestandteile oder des Schmelzvorgangs auch die Farbe des Glases.
Hier möchte ich nun die Metalle vorstellen, die die gewünschten Farben beim Kalknatronglas hervorbringen: Purpur → Mangan; Blaupurpur → Nickel; Rotpurpur → Neodyn*; Blau → Kobalt → Kupfer; Grün → Chrom; Rot → Selen, Titan (durch Reduktion).
*Neodyn scheint je nach Lichtverhältnissen nicht unbedingt immer rotpurpurn, sondern auch rot oder blau.
JD: Gibt es traditionelle Bestimmungen bezüglich Farben, Muster oder Designs?
HT: Das Wort “Kiriko” für das geschliffene Glas kam gegen Ende 18. Jahrhunderts auf; im Buch Ransetsu Benwaku (Dialog über Holländische Lehren) aus dem Jahr 1787 (8. Jahr der Ära Tenmei) steht: “Ein Salzfässchen aus geschliffenem Glas auf dem Esstisch”.
Auch im Kōjien (Großes Japanisches Wörterbuch) von Izuru Niimura steht: “Kiriko: 1) eine viereckige Form, deren Ecke abgeschnitten ist. 2) Glas = geschliffenes Glas.” Die Form 1) bezieht sich auf das eine Vorstufe des Endproduktes aus Glas, bei der es zunächst einfach poliert wird. Daraus wird dann letzten Endes das geschliffene Glas.
Der Unterschied zwischen Edo-Kiriko und Satsuma-Kiriko zeigt sich wie folgt: Das Edo-Kiriko entstand 1834 (im 5. Jahr der Ära Tenpō) in Edo. Verwendete Materialien sind durchsichtiges sowie farbiges Glas. Die Schliffe verlaufen tief und exakt; dadurch entsteht diese klare und prächtige Ausführung.
Das Satsuma-Kiriko ist ein farbiges, geschliffenes Glas. Als Material wird Glas mit kräftiger Farbe verwendet, so dass das geschliffene Glas durch eine halbdurchsichtige und matte Ausführung gekennzeichnet wird. Dieses Handwerk wurde ca. 20 Jahre lang gegen Ende des Tokugawa-Shōgunats im Satsuma-Han (Clan) betrieben und kam danach zum Erliegen. Heute gibt es davon meist nur noch Rekonstruktionen.
JD: Können Sie uns sagen, wie das japanische Glashandwerk im Ausland angesehen wird und wie verbreitet es ist? Haben Sie Kontakte zum Glashandwerk außerhalb Japans und werden Sie davon auch beeinflusst?
HT: Viele wundern sich, dass wir in Japan Glas herstellen, da in Asien – so denken die meisten Leute – hauptsächlich Porzellan hergestellt wird. Und das stimmt auch. Weltweit nimmt die Zahl der Glashandwerksbetriebe ab, und meist gibt es nur noch Fabriken für die maschinelle Glasherstellung. Wir bei Hirota Glas bemühen uns, Essgeschirr aus Glas mit einer besonderen Wärme herzustellen, die keine Maschine hervorbringen kann.
JAPANDIGEST bedankt sich bei Hirota Tatsuro für das Gespräch!
Dieses Interview wurde bereits in einer früheren Ausgabe des JAPANDIGEST veröffentlicht und für die Online-Ausgabe von Sina Arauner nachbearbeitet.
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