Seit 2007 besteht ein Freundschaftsvertrag zwischen der Präfektur Tokushima auf Shikoku und Niedersachsen. Der Ursprung dieser freundschaftlichen Bande ist ein ungewöhnlicher: Im heutigen Naruto waren zwischen April 1917 und Dezember 1919 rund 1.000 deutsche Kriegsgefangene inhaftiert.
Im November 1914 besiegten die japanischen und britischen Truppen nach langer Belagerung Qīngdǎo (damals Tsingtau), das unter deutscher Kontrolle gestanden hatte. Nach der deutschen Kapitulation wurden knapp 4.600 deutsche Soldaten als Kriegsgefangene nach Japan gebracht. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgte zunächst provisorisch in öffentlichen Einrichtungen und Tempeln – dem Geist der Samurai entspringend war in Japan zu dieser Zeit der Gedanke verbreitet, dass Suizid der Schmach einer Niederlage und der konsequenten Gefangenschaft vorzuziehen war. Erst nach und nach wurden in Süd- und Zentraljapan einige Gefangenenlager errichtet, etwa im Frühling 1917 besagtes Lager in Bandō.
Kultur und Handwerk im „Musterlager“
Bis heute ist Bandō unter den japanischen Kriegsgefangenenlagern einzigartig. Das Leben in Gefangenschaft im Land eines Kriegsgegners mag zwar kaum vorstellbar sein, doch zeigen zahlreiche Aufzeichnungen, dass den Gefangenen in Bandō viele Freiheiten und eine humane Behandlung durch die Lagerleitung zuteil wurden.
Nach Errichtung des Lagers übernahm der Oberstleutnant Matsue Toyohisa (1872- 1955) das Kommando. Er führte das Lager liberal und humanitär. Er vertrat die Ansicht, dass die Gefangenen keine Verbrecher waren, sondern Patrioten, die für ihr Land kämpften und den entsprechenden Respekt verdienten. Er empfand den Unterlegenen gegenüber Empathie und setzte sich für deren gute Behandlung ein.
Ich möchte die Kriegsgefangenen mit der Güte und Barmherzigkeit eines Samurai behandln.
Matsue Toyohisa
Die Freiheiten, die Matsue den Gefangenen gewährte, führten zu regen kulturellen und handwerklichen Aktivitäten. So war es den Häftlingen gestattet, Geschäfte und Gastronomien zu betreiben, gesundheitliche und kosmetische Dienstleistungen anzubieten sowie handwerkliche und unterhaltende Tätigkeiten auszuüben und sogar eine eigene Lagerzeitung zu publizieren. Die Gefangenen finanzierten sich durch bezahlte Arbeit und Geldsendungen aus der Heimat, was schließlich auch zur landwirtschaftlichen und sportlichen Nutzung eines Pachtgebietes in der Umgebung führte.
Austausch und Zusammenarbeit: Der Kontakt mit der lokalen Bevölkerung
Für die Verteidigung Qīngdǎos waren alle wehrfähigen Deutschen, die sich zu der Zeit in China oder Japan aufhielten, einberufen worden. Dementsprechend groß war das Interesse und Wissen über Ostasien und Japan unter den Gefangenen. Schon bald entstand ein reger Austausch mit der lokalen Bevölkerung. Auch die japanische Regierung förderte diesen und wies die Gefangenen an, spezielles technisches, wissenschaftliches oder handwerkliches Wissen mit den japanischen Mitbürgern zu teilen.
So wurden die Gefangenen nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Lehrer beschäftigt. Durch Unterricht, Ausflüge sowie Theater- und Musikvorstellungen vor japanischem Publikum entwickelte sich das Lager zu einem Ort des kulturellen Austauschs. Ein Höhepunkt dieses war die „Ausstellung für Kunst und Handfertigkeit“, die im März 1918 zehn Tage lang stattfand. Die Häftlinge zeigten und verkauften über 400 eigens produzierte Werke, die das Interesse der japanischen Gemeinde weckten: Insgesamt besuchten 50.095 Gäste die Ausstellung.
Stimmungsumschwung
1918 kühlte die Atmosphäre im Lager drastisch ab. Der Ausbruch der Spanischen Grippe in Südostasien sowie die sich verschlechternde Kriegssituation des Deutschen Reichs drückten die Stimmung zusehends. Zu dieser Zeit kam es zum ersten aufgezeichneten gewalttätigen Zwischenfall mit Häftlingen. Die Aussicht auf die Rückkehr in ein kapituliertes, vom Krieg gebeutelten Deutschland nahm den Häftlingen jede Hoffnung. Auch die wöchentlich erscheinende Lagerzeitung „Die Baracke“ sollte nach Bekanntwerden der Niederlage Deutschlands nicht mehr herausgegeben werden. Lagerkommandant Matsue nahm die niedergeschlagene Stimmung wahr. In einem Gespräch mit dem Redakteur der Lagerzeitung überzeugte er diesen jedoch, dass gerade jetzt die Herausgabe der Zeitung nicht unterbrochen werden dürfte. Die Soldaten müssten die neue Realität akzeptieren und den Blick nach vorne richten.
Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles am 28. Juni 1919 endete der Erste Weltkrieg und offiziell die Gefangenschaft in Bandō. Matsue sprach den deutschen Soldaten sein herzliches Beileid zur Kriegsniederlage aus und wünschte ihnen die Kraft, ihre zerstörte Heimat wieder aufzubauen. Vorbereitungen für die Heimkehr dauerten bis Dezember 1919 an und zum Abschied lud die lokale Bevölkerung zum gemeinsamen Abendessen ein. Der Abmarsch erfolgte am 25. Dezember 1919, unter teils tränenreicher Verabschiedung durch die japanische Gemeinde.
Ab heute sind sie keine Feinde mehr. Sie sind freie Männer.
Matsue Toyohisa
Das Erbe Bandōs
Zwar wurde der deutsche Gedenkstein für im Krieg gefallene Soldaten nach Kriegsende von der japanischen Bevölkerung über die Jahre in Stand gehalten, doch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rückte der einst rege Austausch sowie das Lager in den Hintergrund. Erst nach Kriegsende entdeckte die Anwohnerin Takahashi Harue bei der Suche nach Brennholz zufällig den Gedenkstein und nahm dessen Pflege wieder auf. In den 1960er Jahren drangen Medienberichte über Takaha-shis Gedenksteinpflege bis zum deutschen Botschafter und Generalkonsul in Kōbe, die daraufhin Naruto besuchten. So blühte der Kontakt zwischen der japanischen Gemeinde und den ehemaligen Häftlingen wieder auf. Aus Spenden der einstigen Lagerhäftlinge wurde 1972 das Deutsche Haus in Naruto errichtet, das der Zeit der Gefangenschaft und dem deutsch-japanischen Austausch gedenkt. Seit 1974 sind Naruto und das niedersächsische Lüneburg Partnerstädte und der Austausch zwischen den Ländern ist rege wie eh und je.
Das Erbe des aufblühenden kulturellen Austauschs erschallt noch 100 Jahre später: Seit der Erstaufführung der vollständigen Neunten Sinfonie von Beethoven am 1. Juni 1918 durch das Orchester und den Chor des Gefangenenlagers, trägt diese in Japan eine ganz besondere Bedeutung. Sie wird regelmäßig zu Jubiläen und insbesondere an Neujahrskonzerten in ganz Japan aufgeführt.
Dieser Text erschien in der Juli 2018-Ausgabe des JAPANDIGEST und wurde für die Veröffentlichung auf der Webseite nachbearbeitet.
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