In Teil 5 der Reihe zum japanischen Rechtswesen haben wir bereits kurz den Taihō-Ritsuryō-Kodex von 701 (Taihō-Ära) angesprochen, das erste Gesetzbuch Japans, das sich am Vorbild des Rechtssystems der damaligen Tang-Dynastie in China orientiert hatte. Es enthielt im Wesentlichen straf- und verwaltungsrechtliche Inhalte, jedoch keine Regelungen zum bürgerlichen Recht, insbesondere zum Vermögensrecht. Unter dem Ritsuryō-Regime gehörten Grund und Bürger dem Staat (kōchi kōmin) und daher bestand keine Notwendigkeit für Rechtsausgleiche zwischen Privatpersonen. Im Laufe der Zeit wurden jedoch zunehmend Ausnahmen zum rein staatlichen Grundbesitz eingeräumt und privilegierten Adligen und Tempeln der Privatbesitz von Grundstück, den Shōen, zugestanden.
Wilder Osten und Bewaffnung der Bauern
Der technische Fortschritt in der Bewässerungstechnik ab dem 12. Jahrhundert löste jedoch einen großen Wandel in der Geschichte Japans aus. In der größten Ebene auf der Hauptinsel Honshū, die Kantō-Ebene (damals Bandō genannt, entspricht etwa dem heutigen Großraum Tōkyō) wurden die Reisfelder drastisch ausgedehnt. Die damalige Wirtschaftskraft hing im Wesentlichen von der produzierten Reismenge ab. Folglich erlangten die Bauern der Kantō-Ebene durch die steigenden Reiserträge mehr Macht. Allerdings galt die Ausnahmeregelung hinsichtlich des Privateigentums an Grundstücken nicht für solch einfache Bauern. Sie konnten nicht Eigentümer von Shōen werden, d.h. der Besitz des Grunds, den sie mit großer Mühe urbar gemacht hatten, war unter dem kōchi kōmin–Regime nur ein bloßer illegaler Besitz und somit nicht rechtlich geschützt. In diesem Sinne war Kantō ein rechtsloser „wilder Osten“, in dem sich die Bauern bewaffnen mussten, um sich vor Angreifern auf ihr Land und Räubern, die es auf ihre Agrarprodukte abgesehen hatten, zu schützen. Da Privateigentum an Land illegal war, gab es auch kein allgemeines Zivilgesetz, das Grundstückseigentum regelte. Folglich existieren auch keine Universalsukzessionsregelungen wie zur Erbschaftsfolge. Wenn der Vater verstarb, wurde der Streit zwischen Kindern um das Erbe nicht selten mit Kämpfen der Familien untereinander mit bewaffneten Pächtern ausgetragen. Der heute noch viel benutzte Ausdruck issho kenmei 一所懸命 „mit vollem Einsatz“, der wörtlich etwa „für sein Grundstück unter Einsatz seines Lebens“ bedeutet, geht auf diese Zeit zurück. Solche bewaffneten Bauern waren der Ursprung der Samurai.
Für die de facto Eigentümer der großen Landwirtschaftsflächen in der Kantō-Ebene bedeutete bereits die Tatsache, dass sie sich bewaffnen mussten, eine finanzielle Belastung. Hinzu kam das schwierige Verhältnis zu der Zentralregierung in Kyōto. Diese betrachtete die de-facto Eigentümer in Kantō als illegale Besitzer. Die bewaffneten Eigentümer in Kantō wiederum konnten zwar Angreifer vertreiben und Rivalitäten unter männlichen Geschwistern austragen, gegen die Truppen der Zentralregierung anzugehen wäre jedoch einem Selbstmord gleichgekommen. So kam es, dass die Bauern das von ihnen urbar gemachte Land z.B. Adligen oder Tempeln, die berechtigt waren, Shōen zu besitzen, nur pro forma schenkten und sich selbst als bloße Verwalter einsetzten. Oder sie versuchten, mit Hilfe von Bestechungen zu erreichen, dass über ihren illegalen Grundbesitz hinweggesehen wurde. Die Bauern in Kantō mussten jedoch in dieser rechtlich instabilen Situation stets befürchten, dass die Machthaber es sich irgendwann anders überlegten.
Eine Rebellion führt zum Zivilrecht
In dieser Situation erhob sich Minamoto no Yoritomo 1180 gemeinsam mit einer Privattruppe seines Schwiegervaters (ein bewaffneter Bauer der Izu-Halbinsel) zum Aufstand. Yoritomos leiblicher Vater, Yoshitomo, war im Machtkampf um die Interessenvertretersposition der bewaffneten Bauern – Samurai – unterlegen und wurde in der Folge als Rebell zum Tode verurteilt. So stand auch sein Sohn als politischer Verbrecher in Hirugakojima („Kleine Blutegelinsel“ – der Name enthält das Wort „Insel“, es handelt sich aber um ein Moorgebiet im Inneren der Izu-Halbinsel in Shizuoka) unter Hausarrest.
Yoritomo wuchs umgeben von bewaffneten Großbauern auf und wusste ganz genau, wo die Unzufriedenheit der Großbauern in Kantō lag. Von besonderer Bedeutung in der japanischen Geschichte ist in diesem Zusammenhang, dass – obwohl die Aufständigenarmee zunächst von den Regierungstruppen in die Enge getrieben und beinahe vernichtet worden wäre – die Großbauern der Region einer nach dem anderen Yoritomo Privattruppen zur Verfügung stellten. Der Erfolg Yoritomos, eines politischen Verbrechers, der sich – ohne Kapital, ohne eigene Privatarmee und ohne militärische Erfahrungen – innerhalb von nur rund zwei Monaten an die Spitze einer großen Armee Aufständiger katapultierte, zählt zu einem der Ereignisse, die große Veränderungen in Japans Geschichte brachten. Yoritomo besiegte am Fluss Fuji die Regierungstruppen. Tatsächlich war es so, dass die Regierungstruppen (ca. 2.000) die Übermacht der Aufständischen (ca. 40.000) fürchteten und, erschreckt durch eine Schar von Wasservögeln, die sich gleichzeitig mit viel Lärm in die Lüfte erhoben, dieses Geräusch für einen Generalangriff der Rebellen hielten und kampflos das Weite suchten.
Yoritomo wählte Kamakura (ca. 50 km südlich vom heutigen Tōkyō) als Sitz der Rebellen-Regierung, er erkannte privaten Grundbesitz an und ebnete 1184 mit der Einrichtung des ersten japanischen Zivilgerichts (monchūjo) den Weg für Gerichtsprozesse bei Grundstückskonflikten. Das erste monchūjo wurde auf dem Gelände von Yoritomos Residenz errichtet. Yoritomo, dem die nicht abreißenden Wutschreie der streitenden Gerichtsparteien bald zuviel wurden, befahl, das Gericht außerhalb des Geländes zu verlegen. Das neue Gebäude wurde aber erst 1199, kurz nach dem tödlichen Verkehrsunfall Yoritomos, fertiggestellt so dass er letztendlich bis zum Ende seines Lebens dem Lärm nicht entkam. An der Stelle, an der das umgesiedelte monchūjo stand – gegenüber der heutigen Onari-Grundschule am Westausgang des Bahnhofs Kamakura – erinnert ein Gedenkstein an das erste Zivilgericht Japans.
Nachdem die Regierungen in Kyōto und Kamakura eine Weile feindlich nebeneinander existiert hatten, eroberte Yoritomos kriegserfahrene Kantō-Armee schließlich die damalige kaiserliche Hauptstadt Kyōto. Yoritomo drängte die Tennō–Regierung nicht in den Untergang, sondern die beiden Regierungen einigten sich auf eine doppelte Machtstruktur: Während Kamakura einerseits die traditionelle Autorität Kyōtos respektierte, wurde andererseits die Macht der Militärregierung in Kamakura durch Kyōto legitimiert, indem der Tennō in Kyōto der Militärregierung in Kamakura eine „Generalvollmacht“ übertrug. Der Träger der Generalvollmacht wurde als Shōgun bezeichnet, die Militärregierung, an deren Spitze er stand, wurde bakufu genannt („Zeltregierung“, bei Feldschlachten wurden Zelte als Kommandozentralen errichtet). Die ursprüngliche Bezeichnung für den Shōgun lautete seii taishōgun, was so viel bedeutet wie „General, der die Barbaren erobert“ und wurde im Altertum als Titel an Kommandeure vergeben, denen die Regierungsgewalt über besetzte Gebiete übertragen wurde. Diese Bedeutung unterscheidet sich jedoch völlig vom Shōgun–Titel, den Yoritomo und seine Nachfolger führten. In deren Fall wurde die Bedeutung erheblich erweitert und bezeichnete die „Person, der das Herrschaftsrecht über ganz Japan übertragen wurde“. Damit wurde das Ritsuryō-System, das seit der Zeit des Taihō-Ritsuryō-Kodex bestanden hatte, vollständig abgeschafft und es begann die Zeit der Samurai, die 700 Jahre lang bis zur Rückgabe der Generalvollmacht an den Tennō durch den letzen Shōgun (Yoshinobu Tokugawa) des letzen bakufus am 9.11.1867 andauerte.
Dieser Artikel erschien im Januar 2013 in der Zeitschrift JAPANMARKT (herausgegeben von der Deutschen Industrie und Handelskammer) und wurde für die Veröffentlichung auf JAPANDIGEST vollständig überarbeitet und ergänzt.
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