Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Dogū: Tonfiguren aus der Vergangenheit

Maria-Laura Mitsuoka
Maria-Laura Mitsuoka

Maskenhafte Gesichter, künstlerische Verzierungen und weit aufgerissene Augen: Die japanischen Tonfiguren (dogū) sind so vielfältig wie geheimnisvoll und gleichen humanoiden Fantasiegeschöpfen aus längst vergessenen Legenden.

An Taille abgebrochene Tonfigur aus der Späten Jōmon-Zeit
An Taille abgebrochene Tonfigur aus der Späten Jōmon-Zeit (1.000-300 v. Chr.) mit Verzierungen. © Metropolitan Museum of Art

Liest man zum ersten Mal über die Jōmon-Zeit (ca. 16.000 v. Chr. – 100 v. Chr.), ist es schwierig, sich ein genaues Bild von den damaligen Lebensumständen zu machen. Wir befinden uns in einem Japan, das Metallverarbeitung, Reisanbau und den Buddhismus noch nicht kennt. Der Großteil der Bevölkerung lebt in kleinen Siedlungen aus Grubenhäusern, bei denen es sich um in die Erde eingetiefte, winzige Hütten handelt. Landwirtschaft, das Sammeln von Früchten und der Fischfang bestimmen außerdem den Alltag der Bewohner. Da wir uns erst ab dem 8. Jahrhundert auf schriftliche Quellen verlassen können, bleiben uns nur die archäologischen Hinterlassenschaften der Jōmon-Kultur, um die Lebensumstände der japanischen Vorgeschichte zu rekonstruieren. 

Eine Reise in die Jōmon-Zeit

Dabei können wir auf ein reiches Inventar an unterschiedlichsten Keramikgefäßen, bis hin zu den sogenannten dogū (土偶), Keramikfiguren aus gebranntem Ton, zurückgreifen. Die Tonbearbeitung war früher übrigens so populär, dass sie der Epoche sogar ihren Namen verlieh: Jōmon (縄文) bedeutet ins Deutsche übersetzt lediglich „Japanische Schnurmuster“ und ist die beliebteste Art, Keramik zu verzieren.

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Grubenhaus in Nakabaru, Präfektur Okinawa
Rekonstruktion eines Grubenhauses im Nakabaru-Dorf (Präfektur Okinawa). Zu Beginn der Jōmon-Zeit wurden dogū vor allem im Umfeld solcher Hütten freigelegt. © じなん / photo-ac

Dem Geheimnis der Tonfiguren auf der Spur

Prägend für die Jōmon-Zeit sind dogū, Tonfiguren größter Varietät, die sich wie ein Lauffeuer durch die Epoche verbreitet haben und im gesamten Land aufzufinden sind. Stilistisch gesehen sind dogū so weit von unserer Vorstellung traditioneller, japanischer Kunst entfernt, dass ihr Anblick mehr Fragen als Antworten für uns aufwirft. Warum wurden diese Tonfiguren erschaffen? Wo fanden sie Verwendung? Dienten sie medizinischen Zwecken oder stellten sie spirituelle Wesen dar?

Obgleich Ton das am häufigsten verwendete Material zur Herstellung von dogū ist, so sind uns auch andere Figuren aus Gestein (gangū, 岩遇) oder Geweih (kakugū, 角遇) bekannt. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ähnliche Kunstwerke aus vergänglichen Materialien wie Holz hergestellt worden sind.

Abgebrochener Kopf im Katsusaka-Stil (2500-1500 v. Chr.)
Abgebrochener Kopf im Katsusaka-Stil (2.500-1.500 v. Chr.). © Metropolitan Museum of Art

Die Entwicklung der dogū

Die ältesten dogū-Funde stammen aus der Kinki-Region (Nara, Kyōto, Ōsaka) und datieren ca. 14.000 v. Chr. Dabei handelt es sich um kleine Figuren in Höhe von maximal fünf Zentimetern, die oft gesichts- oder sogar kopflos sind. Viele der Funde stammen aus Abfallgruben oder Grubenhäusern und liegen mit zerbrochenen Alltagsgegenständen und Gefäßen zusammen.

Ab der Mittleren Jōmon-Zeit entwickeln sich dreidimensionale, regional variierende Darstellungsweisen. Während im Westen noch immer gesichtslose, schlichte dogū bevorzugt werden, verleihen die Künstler im Osten ihren Werken ausdrucksvolle Gesichter und fein ausgearbeitete Posen mit waagerecht oder horizontal ausgestreckten Armen. Zudem verzieren immer mehr Hersteller ihre Werke mit Stichmustern oder rankenartigen Dekorationen, die den heutigen Betrachter an Tätowierungen oder Skarifizierung erinnern können. Farbspuren an der Oberfläche weisen darauf hin, dass einige der dogū ursprünglich sogar bemalt worden sind. Insbesondere die als weibliche Individuen gedeuteten Exemplare sind von innen hohl, einige beinhalten sogar eine Tonkugel, die Archäologen als Nachkommen interpretieren. 

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Dogū mit riesigen Augen aus der Späten Jōmon-Zeit (1000-300 v. Chr.)
Dogū mit riesigen Augen aus der Späten Jōmon-Zeit (1.000-300 v. Chr.) © Metropolitan Museum of Art

Nur wenige der Exemplare können in einem unversehrten Zustand geborgen werden, der Großteil liegt in Scherben. Besonders der Übergang von dem Torso zu den Gliedmaßen ist sehr fragil und einige Forscher glauben, dass dogū mit dem Zweck der Zerstörung produziert worden sein könnten.
Ab dem Ende der Jōmon-Zeit nehmen die Gesichtszüge und Körperverzierungen der dogū im Osten des Landes übertriebene, unmenschliche Formen an. Einige überschreiten eine Höhe von 40 Zentimetern und können nur noch beidhändig getragen werden. Typisch für Hokkaidō und Tōhoku sind riesige, froschartige Augen, die den Betrachter eher an Außerirdische, als an Hinterlassenschaften der japanischen Kultur denken lassen. 

Mittlerweile findet man dogū im Osten des Landes nicht mehr nur noch in Abfallgruben und Häusern, sondern auch im Bestattungskontext und bei steinernen Kreisen, die als kultische Gebilde interpretiert werden. Dies weist auf eine Veränderung ihrer Nutzung und Bedeutung hin. Zudem steigt die Zahl der dogū stark an. Auf Kyūshū konnten bis zu 200 Exemplare in nur einer Ausgrabungsstätte freigelegt werden.

Steinkreisfund in Japan
Steinkreise, die Forscher mit kultischen Praktiken der Sonnenanbetung verbinden. Ab dem Ende der Jōmon-Zeit werden vor allem im Osten Japans dogū bei diesen Konstruktionen geborgen. © 神社&パワースポット巡り / photo-ac

Viele Fragen, verschlüsselte Antworten

Welchen Sinn hatten dogū im Alltag der Jōmon-Menschen? Dienten sie einfach nur der Zierde oder spielten sie eine wichtige Rolle in der damaligen Gesellschaft? Im Folgenden werden die bekanntesten Deutungsversuche vorgestellt:

Die „Katashiro-Theorie“ besagt, dass die dogū als Repräsentanten ihrer Besitzer dienten, um im Falle einer Krankheit oder Verletzung an deren Stelle behandelt zu werden. Empfindet der Patient Schmerzen in einem gewissen Körperteil, so wurde dieser bei der Figur entsprechend mit Zaubersprüchen und Naturmedizin behandelt, um eine positive Wirkung beim Betroffenen zu erzielen.

Eine weitere Theorie beruft sich auf eine Legende aus dem Nihonshoki (日本書紀, „Chronik Japans in einzelnen Schriften“) oder Kojiki (古事記, „Aufzeichnung alter Geschehnisse“), die von der Ermordung einer weiblichen Göttin berichtet, deren amputierte Körperteile sich in Hirse, Gerste und Sojasprossen verwandeln. Hier repräsentieren dogū die weibliche Gottheit, deren Gliedmaßen abgetrennt werden, um eine reiche Ernte zu erbitten.

Tonfigur mit weiblichen Körperformen aus Nordkyūshū
Tonfigur mit weiblichen Körperformen aus Nordkyūshū (ca.1.000-300 v. Chr.) © Metropolitan Museum of Art

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Der Wissenschaftler Kobayashi Tatsuo glaubt, dass dogū nicht Menschen, sondern spirituelle Wesen und Geister darstellen sollen. Nach seiner Meinung verzichten die Künstler in der Frühen Jōmon-Zeit auf Köpfe und Gesichter, da sie eine „Vermenschlichung“ durch den Betrachter vermeiden und den Mystizismus spiritueller Gestalten wahren wollen. Zudem deutet er die vielen Funde am Ende der Epoche als einen Widerstand gegen die Metallimporte aus China und Korea. Er geht zudem von einem dualen Gesellschaftsmodell aus, das auch bei heutigen Naturvölkern noch weit verbreitet ist: Mann und Frau, Gut und Böse, Tag und Nacht.

Mit unserem heutigen technischen Wissensstand sind wir mittlerweile zwar in der Lage, die Herstellungsprozesse der dogū zu rekonstruieren, sowie durch Analyse der Erdschichten den Zeitraum ihrer Nutzung zu ermitteln; in welcher Gefühls- und Glaubenswelt die Erschaffer selbst aber schwebten, ist uns nicht bekannt. Die oben genannten Interpretationen über die Bedeutung der Funde basieren auf Vergleichen mit anderen Kulturen, stellen aber keine Wiedergabe der historischen Wahrheit dar. Wir dürfen nicht vergessen, dass die wahre Bedeutung der dogū für die Menschen der Vergangenheit eine andere gewesen sein könnte als die, die wir ihnen aus heutiger Sicht zuschreiben. 


Verwendete Quellen:

Metropolitan Museum of Art

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