Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Namahage: Die Dämonen von Oga

Maria-Laura Mitsuoka
Maria-Laura Mitsuoka

Der 31. Dezember markiert oft einen Neustart Vorsätze werden gefasst und vergangene Ereignisse mit Gelächter und Feuerwerk verabschiedet. Auf der Halbinsel Oga in der Präfektur Akita läuten indes die Namahage das Neujahr ein – dämonische Wesen, die den Legenden nach von den Bergen herabsteigen, um nach dem Rechten zu sehen.

Namahage in Oga
Zum Sedo-Fest steigen die dämonischen Namahage mit Fackeln von den Bergen herab. © David Ball / Alamy Stock Photo

Jeder, der schon einmal durch die malerische Akita-Präfektur gereist ist, dürfte mit Darstellungen der Namahage konfrontiert worden sein: Dämonische Fratzen mit spitzen Zähnen und mürrischen Gesichtszügen, die ihre Körper mit Strohmänteln bedecken und einschüchternde Posen einnehmen. Am Bahnhof von Akita werden sogar Souvenirs in Namahage-Verpackungen verkauft, die die Besucher:innen an ihre tiefe traditionelle Bedeutung in der nordjapanischen Kultur erinnern. Aber was sind Namahage – und sind sie Freund oder Feind?

Für die Menschen in Oga stellen sie spirituelle Wesen dar, die als Boten der Götter am Jahresende von den Bergen kommen, um Faulheit zu bestrafen und gute Gesundheit sowie reiche Ernten zu bringen. Das Wort namahage soll sich von dem Begriff namomi ableiten, was so viel bedeutet wie „die Brandflecken abziehen“. Dies bezieht sich auf die Brandflecken an Händen und Füßen, die entstehen, wenn man über einen langen Zeitraum zu nahe am Feuer sitzt. Ursprünglich wurde das Namahage-Fest in der Stadt Oga während des ko-shōgatsu (kleines Neujahr) um den 15. Januar herum abgehalten, aber heute findet es in etwa 85 Dörfern am Neujahrsabend statt. Auch außerhalb von Oga werden ähnliche Feste veranstaltet, wenngleich unter anderem Namen. So heißen die Namahage in der südlich gelegenen Region Gojōme Namomihagi, während sie in Shimohama oder Kanaashi Yamahage genannt werden.

Hachibōdai-Aussichtsdeck
Das Hachibōdai-Aussichtsdeck bietet eine malerische Aussicht auf die Region Oga. ©Travel_photo/ photo-ac

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Der Alptraum aller Kinder

Trommelschläge. Einschüchternde Schreie. Fackeln. Das Namahage-Fest beginnt imposant und beeindruckend. Junge Männer aus der Gemeinde verwandeln sich in die geheimnisvollen Bergbewohner, indem sie sich dämonische Masken sowie Strohmäntel namens mino (oder kera) überziehen. Mit Messern und gohei gewappnet (Holzstäbe mit daran befestigten Papierstreifen, die bei verschiedenen Ritualen verwendet werden) begeben sie sich auf die Suche nach Kleinkindern und jungen Ehefrauen, um sie zur Tugendhaftigkeit zu ermutigen. Angeführt werden sie von einem sakidachi, einem Mann, der ihnen dabei hilft, die Haushalte der Gemeinde aufzusuchen. Vorab fragt der sakidachi jede Familie, ob sie den Tod eines Verwandten zu beklagen hat oder ob eines der Familienmitglieder an einer schweren Krankheit leidet. Wurde die Erlaubnis eingeholt, streifen die Namahage schreiend durch die Räume und lassen sich schließlich in der Nähe der Feuerstelle nieder, wo ihnen Essen und Sake (Reiswein) serviert wird.

Im anschließenden Gespräch mit dem Familienoberhaupt erkundigen sie sich nach der Ernte und der Gesundheit der Familienmitglieder. Dabei wollen sie vor allem wissen, ob die älteren Angehörigen gut versorgt werden und ob alle im vergangenen Jahr hart gearbeitet oder gelernt haben. Erweist sich eines der Familienmitglieder als Faulpelz, holen die Namahage ein Buch hervor, in dem gemäß der Tradition die Taten eines jeden Dorfbewohners niedergeschrieben sein sollen. Dabei drohen sie dem Hausherrn mit einschüchternden Worten, undisziplinierte Kinder zu verschleppen, sollte künftig keine Besserung eintreten. Zuletzt ermahnen sie, dass sie das Geschehen von den Bergen aus beobachten und im nächsten Jahr wiederkommen werden.

Shinzan Schrein
Beim Shinzan-Schrein in Oga (Präfektur Akita) wird im Februar das lebhafte Sedo-Fest abgehalten. © shonen_j / photo-ac

Die Legende der 999 Stufen

Die Ursprünge der Namahage-Kultur sind unbekannt, allerdings ranken sich viele Geschichten um die unheimlichen Bergbewohner. Eine davon ist die Legende der 999 Stufen, die auch als Basis für das Sedo-Fest dient, das jeden zweiten Freitag im Februar für drei Tage am Shinzan-Schrein gefeiert wird. Der Legende zufolge überquerten fünf Namahage, in der Erzählung auch Oni (Dämonen) genannt, im Zeitalter der chinesischen Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) das Meer, um Dörfer auf japanischem Boden zu plündern und junge Frauen zu entführen. Eines Tages überlegten die betroffenen Dorfbewohner, wie sie die Dämonen vertreiben könnten, und unterbreiteten ihnen folgenden Vorschlag: „Wir werden euch unsere Töchter geben, wenn ihr es schafft, in nur einer Nacht 1000 Stufen zum Goshadō-Schrein zu bauen. Gelingt euch das nicht, müsst ihr das Dorf verlassen.“ Siegessicher stimmten die Dämonen zu und bauten 999 Stufen. Doch als sie nur noch eine einzige Stufe von ihrem Ziel entfernt waren, imitierten die Dorfbewohner das Krähen eines Hahns, um ihre Peiniger zu täuschen. Aus Angst vor dem Tagesanbruch schreckten die dämonischen Besucher panisch auf, und noch bevor sie die Wette verlieren konnten, flohen sie aus dem Dorf und wurden nie wieder gesehen.

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Schaurige Masken und kraftvolle Tänze

Nicht minder eindrucksvoll als das Neujahrsfest ist das bereits genannte Sedo-Fest. Ursprünglich begann es als Yuki Matsuri (Schneefestival) am Hoshitsuji-Schrein in Kitaura-yumoto, um den Tourismus in Ogas Thermalzentrum während der Wintersaison zu fördern. Sugawara Keikichi, der spätere Bürgermeister der Stadt, führte die Initiative zusammen mit Nara Tamanosuke, einem Volkskundler und Mitglied des Stadtrats von Akita, an. Bis zum dritten Jubiläum fand die Feierlichkeit im Hoshitsuji-Schrein statt, dann wurde es aufgrund der gestiegenen Zuschauerzahl schließlich in den Shinzan-Schrein verlegt.

Während des Fests trugen in der Vergangenheit Volkssänger Enka-Lieder vor, außerdem wurden Tauziehwettbewerbe zwischen Mannschaften aus Ogas verschiedenen Stadtteilen  ausgetragen. Heute beginnt es mit chinkama, einer traditionellen Zeremonie mit kochendem Wasser, bei der ein Priester Beschwörungsformeln singt, während er das Wasser in einem großen Kessel mit einem Strohbesen umrührt. Yu no Mai, ein heiliger Reinigungstanz, der für diese Region typisch ist, folgt im Anschluss. Danach ziehen die Namahage um die Häuser, führen Tänze auf und schlagen Trommeln. Schließlich marschieren fünfzehn weitere Namahage mit Fackeln den Bergpfad entlang und bringen die Nacht mit einer schaurig schönen Stimmung zum Ausklang. Dabei verteilen sie an die Besucher:innen Reiskuchen, die Unheil abwehren sollen.

Verkleidet als Namahage machen die jungen Schausteller während das Sedo-Festes die Stadt Oga "unsicher". © Associated Press / Alamy Stock Photo

Die Namahage-Tradition, die tief in den verschneiten Landschaften Akitas verwurzelt ist, hat über Jahrhunderte hinweg ihren einzigartigen Charakter bewahrt. Jedes Jahr aufs Neue fasziniert sie sowohl die lokale Bevölkerung als auch Reisende aus aller Welt. Mit ihren kunstvoll gefertigten Masken und beeindruckenden Tänzen führen die Namahage ausländische Besucher:innen in einen ebenso geheimnisvollen wie symbolisch tief verankerten Brauch, der bis heute die kulturelle Identität der Region prägt. Insbesondere Reisende, die abseits der üblichen Touristenattraktionen neue Einblicke gewinnen wollen, sollten sich die Wintermonate in Akita nicht entgehen lassen.

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