Die (fiktive) muslimische, jüdische oder buddhistische Doktorandin im Rollstuhl verkörpert in einem einzigen Menschen die Vielfalt, mit der es Hochschulen heute zu tun haben: Geschlecht, Ethnie, Religion, Behinderung beschreiben Diversität, die in der Vergangenheit vor allem im Zusammenhang mit der Forderung nach Chancengleichheit verbunden war. Heute wird sie in Deutschland und in Japan im Zeichen von sinkender Attraktivität von Wissenschaft als Beruf und Sorge vor abnehmenden Schülerzahlen als Herausforderung und Chance diskutiert. In beiden Ländern sind die Hochschulen konfrontiert mit komplexen Anforderungen der Politik, die möglichst hohe Bildungsabschlüsse für viele fordert, der Wirtschaft, die nach der Verwertbarkeit von Wissenschaft fragt und der Öffentlichkeit, die die Erwartung nach einem Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme formuliert. Sie können den Anforderungen gerecht werden, wenn sie Diversität als Chance begreifen und bereit sind, eine Vorreiterrolle im aktiven Umgang mit Diversität übernehmen. Der deutsch-japanische Dialog dient hier nicht nur der gegenseitigen Informierung und Diskussion, sondern ist Grundlage für die deutsch-japanischen Wissenschaftsbeziehungen der Zukunft, da Definition und Umgang mit Diversität die Grundfesten von Wissenschaft und Bildung einer Gesellschaft berühren.
Diversität im Wissenschaftsbereich
Die Vielfältigkeit der Mitglieder von Bildungs- und Hochschuleinrichtungen ist nichts Neues. Neu ist, dass bislang getrennt diskutierte Bereiche wie Internationalisierung, Gleichstellung der Geschlechter und Integration von Behinderten unter dem Schlagwort Diversität zusammengeführt werden und unter dem Blickwinkel der Aktivierung von Humanressourcen im Zeichen des demografischen Wandels neue Aufmerksamkeit erfahren. Die Formulierung einer Internationalisierungsstrategie gehört heute für Hochschulen zum „guten Ton“. Damit soll die „Internationalisierung zu Hause“ gefördert und Studierende sowie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Ausland gewonnen werden. Stipendienprogramme, Integrationshilfen oder Forschungsmentoren sind Beispiele für die Initiativen. Die alte Forderung nach Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft hat in Deutschland durch die Diskussion über die Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen, in Japan durch die Womenomics der Regierung Abe neue Impulse erfahren. Förderstrategien in Deutschland und Japan weisen Ähnlichkeiten, aber auch zahlreiche Unterschiede auf. Spezielle Förderprogramme, Mentoring oder Familienunterstützung sind an deutschen Universitäten inzwischen häufig in die Leitidee des „gender-mainstreaming“ eingebettet, also dem Bekenntnis zu einer konsequenten gleichen Berücksichtigung von Männern und Frauen in allen Fragen von Forschung und Lehre. Auch institutionelle Unterstützungsangebote für behinderte Hochschulmitglieder sind in zahllosen Hochschulen zu finden.
Trotz dieser laufenden Aktivitäten signalisiert der universitäre Alltag in Deutschland und Japan jedoch Handlungsbedarf: Menschen mit Behinderungen werden quantitativ nicht erfasst, wir wissen jedoch, dass Studienabbrüche, Fehlzeiten und überlange Verweildauern häufig auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind. Studierende aus dem Ausland machen in Japan aktuell 4% und in Deutschland 11,3% aus, ausländische Professoren und Wissenschaftler haben überwiegend einen Gaststatus. Der Anteil der Frauen bei den Studienanfängern lag in Japan 2013 bei 43,4%, in Deutschland 2012 bei 49,5%, bei den Professuren jedoch liegt der Anteil in Japan bei 14,4%, in Deutschland bei 21,3% Offensichtlich ist also, dass Frauen, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachräumen, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen ein Potential für die Wissenschaft bieten, das auf dem aktuellen Stand allerdings noch zu wenig zur Geltung kommt. Der bislang ausbleibende Durchbruch in der Gleichstellungs-, Inklusions- und Integrationspolitik der Hochschulen verweist darauf, dass die Herausforderung darin liegt, über institutionelle Strategien hinaus eine offene Hochschulkultur zu stärken, die dem Ziel, eine Vielfalt von Weltbürger und Weltbürgerinnen auszubilden und zu binden, gerecht wird.
Kooperation und Dialog: Diversität als Chance
Diversität ist Chance und Bereicherung. Die Universitäten sind ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, in dem der Umgang mit Diversität exemplarisch vorangetrieben werden kann (und sollte). In Deutschland und in Japan werden gegenwärtig Strategien entwickelt und erprobt, die noch viel Raum für gemeinsame Diskussionen bieten. Das Thema Diversität führt zu weitergehenden Fragen, die beide Hochschulsysteme betreffen. Hierzu zählt z.B. die Frage nach den Arbeitsbedingungen, die Hochschulen bieten sollten, damit sie für die Vielfalt der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Zukunft attraktiv sind. Zu diskutieren wäre auch die Sprachenfrage oder die Frage nach den Zugangsbedingungen zu den Institutionen der tertiären Bildung. Sie führt hinein in den Austausch über so elementare Fragen wie der sozialen Verantwortung der Universitäten, der Rolle der Hochschulen bei der Formulierung ethischer Grundsätze für die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Bedeutung der Hochschulen für die Ermöglichung von Selbstreflexion und kritischem Denken.
Das Thema Diversität lädt also zu einer umfassenderen Verständigung über Auftrag und Funktion von Hochschulen in einem weltoffenen Hochschulsystem der Zukunft ein. Die gemeinsame Arbeit an Visionen für einen globalisierten und diskriminierungsfreien Bildungs- und Wissenschaftsraum, und die Verständigung über das Leitbild von Forschung und Lehre verspricht für beide Länder ein ertragreiches Feld für die Ausgestaltung ihrer zukünftigen Wissenschaftsbeziehungen zu sein.
Das JDZB hat in den vergangenen Jahren deutsch-japanische Begegnungen in diesem Themenfeld initiiert und gefördert. Es steht bereit, als Katalysator und als Kristallisationsort auch in diesem Jahr zu wirken.
Dr. Gesine Foljanty-Jost ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft und Japanologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie erhielt zusammen mit der Familien- und Sozialrechtlerin Prof. Motozawa Miyoko (Universität Tsukuba) 2015 den Eugen und Ilse Seibold-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), mit dem ihr jahrelanges erfolgreiches Engagement, das zum deutsch-japanischen Wissenschaftsaustausch und in besonderer Weise zum Verständnis des jeweils anderen Landes beigetragen hat, ausgezeichnet wurde.
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag des vierteljährlichen Newsletters “jdzb echo”, der vom Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin publiziert wird. Der Beitrag wurde von Dr. Gesine Foljanty-Jost für die März 2016-Ausgabe verfasst.
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