Kikubari (気配り) setzt sich aus den Schriftzeichen ki (気) für Energie, Lebenskraft, konnotiert auch mit Begriffen wie Herz, Geist, sowie kubaru (配る) für verteilen zusammen. Sinngemäß könnte man Kikubari als „gute Energie verbreiten“ oder abstrakter als „positiv in die Welt ausstrahlen“ übersetzen.
In der japanischen Gesellschaft, die oftmals großen Wert auf den harmonischen Zusammenhalt der Gruppe legt, wird von den Einzelnen erwartet, ihren Beitrag zu dieser Harmonie zu leisten. Ein Aspekt ist es, vorauszuahnen, welche Bedürfnisse andere Personen der Gruppe haben und vorausschauend und umsichtig auf diese einzugehen. Diese Praxis heißt Kikubari.
Weitere Aspekte dieser komplexen Philosophie sind
- Empathisch und achtsam an andere denken
- Sich auf andere konzentrieren, nicht auf sich selbst
- Bereit sein zu geben
- Selbstlos sein
Kikubari – Traditionelle Achtsamkeit im japanischen Alltag
Zu Kikubari gehört nicht nur das Vermeiden von Verhalten, das andere belästigen könnte – wie das Tragen von aufdringlichem Parfüm oder lautes Sprechen im öffentlichen Raum. Der persönliche Raum des Einzelnen soll geachtet werden, damit das Gruppengefüge besser funktioniert.
Darüberhinaus strebt Kikubari eine proaktive Verbesserung des Alltags an. Es macht gewisse alltägliche Strukturen vorhersehbar – so werden Unsicherheiten vermieden. Zum Beispiel halten sich in Japan alle Rolltreppenfahrer an die Prämisse „Links stehen, rechts gehen“. Natürlich erinnern auch überall angebrachte Schilder an diesen Vorsatz.
Restaurants kommen den Bedürfnissen der Gäste auf mehrere Arten entgegen. Die Plastikmodelle der Speisen erleichtern die Auswahl. Vor dem Essen wird ein feuchtes Tuch gereicht, an dem die Gäste ihre Hände säubern. Auf den Toiletten findet man oftmals Deo, Mundspülung & Co., um sich nach dem Essen frisch zu machen.
Kikubari als Mindset strukturiert aber auch das Verhalten in unvorhergesehenen, neuen Situationen. So wird nach Katastrophen wie Erdbeben oder Tsunami immer wieder von selbstlosen Taten berichtet: Helfer, die Altenheime evakuieren, Restaurant- und Supermarktbesitzer, die ihre Ware kostenlos verteilen, Freiwillige, die beim Aufräumen und in Notunterkünften helfen.
Materielle Umsetzung von Kikubari
Auch beim japanischen Design findet sich diese Philosophie. Kikubari erleichtert die Benutzung von Gegenständen. Dazu muss im Designprozess genau überlegt werden, auf welche Art und zu welchem Zweck der Gegenstand im Alltag verwendet werden wird. Daran wird die Beschaffenheit des Gegenstandes angepasst.
In der Praxis kann man zum Beispiel Aufreißlaschen an Verpackungen als Kikubari betrachten. Ein japanisches Beispiel ist das Design der Verpackung von Onigiri-Reisbällchen, die im Supermarkt verkauft werden. Bei frischer Zubereitung werden die Reisbällchen sofort mit getrockneten Nori-Algen umwickelt. Dies geht beim Verkauf im Supermarkt natürlich nicht, die Algen würden durchweichen. Also wird eine Plastikfolie zwischen Reis und Alge gelegt. Damit die hungrigen Kunden den Reisball auspacken, ohne die Alge zu zerreißen, ist die Reihenfolge auf der Verpackung angegeben.
Umsicht als japanspezifische Eigenschaft?
Kikubari kann durchaus als grundlegende soziale Kompetenz in Japan verstanden werden. Wer Kikubari nicht beherrscht, hat es schwer in Gruppen. Gleichzeitig ist eine Ausrichtung des Verhaltens auf die Prinzipien des Kikubari für viele Japaner durch das soziale Umfeld antrainiert. Aber natürlich heißt das nicht, dass in Japan Kikubari selbstverständlich ist – sonst würde es nicht soviel Literatur über diese Philosophie und ihre Anwendung im Alltag geben!
Von Ausländern wird Kikubari im japanischen Umfeld nicht zwangsläufig erwartet. Es kann aber natürlich nur von Vorteil sein, Japanern mit Kikubari zu begegnen – und vielleicht auch das Verständnis für die Bedürfnisse der Mitmenschen allgemein verfeinern.
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