Spätestens nach der Ansprache von TV-Moderatorin Christel Takigawa anlässlich der Vergabe der Olympischen Sommerspiele nach Tōkyō im Jahr 2013 ist das Wort lange Zeit in aller Munde gewesen – Omotenashi, auch bekannt als japanische Gastfreundschaft. Das dahinterstehende Konzept in all seinen Facetten mit einem einzigen Begriff zusammenzufassen, ist nahezu unmöglich. Es beinhaltet weitaus mehr als reine Hospitalität und versteckt sich in Japan häufig in den subtilsten Gesten.
Der Ursprung von Omotenashi
Einen akkurate Übersetzung für den Begriff Omotenashi (お持て成し) zu finden, ist eine wahre Herausforderung. Er besitzt eine Nuance, die über die hierzulande gängige Verwendung von „Gastfreundschaft“ hinausgeht. Die Magie von Omotenashi liegt in kleinen Gesten und Aufmerksamkeiten, die man auf den ersten Blick nicht wahrnimmt: In der Erschaffung einer Atmosphäre, in der man sich wohl und geborgen fühlen kann. Oder in einer aus dem Herzen kommenden Zuvorkommenheit des Gastgebers – ohne dafür jemals eine Gegenleistung zu erwarten.
Das letzte Merkmal ist wohl eine der prägnantesten Eigenschaften von Omotenashi. Neben der regulären Schreibweise, die sich aus den Kanji für „besitzen“ (持) und „erreichen“, „wachsen“ oder „werden“ (成) zusammensetzt, soll es einen weiteren Wortursprung geben. Die Lesung dieses zweiten Begriffes ist omoteuranashi (表裏なし) – etwas, das keine (なし) Vorder- (表) oder Rückseite (裏) besitzt, also eine Handlung aus vollem Herzen ohne den versteckten Wunsch nach einer Gegenleistung. Es ist wohl die beste Erklärung, warum in Japan z.B. kein Trinkgeld verlangt oder erwartet wird.
Die eigentlichen Wurzeln von Omotenashi lassen sich bis zur Entstehung der Teezeremonie (sadō) zurückverfolgen. Der japanische Tee-Meister Sen no Rikyū etablierte am Ende der Muromachi-Zeit (1333-1573) die Regeln dieses Rituals. Während der Teezeremonie widmet der Gastgeber seinen Gästen die volle Aufmerksamkeit und bereitet den Tee in allen Schritten direkt vor ihren Augen zu, um ihnen eine bestmögliche und unvergessliche Erfahrung zu bieten. Heute finden sich Ansätze von Omotenashi in weiten Teilen der japanischen Gesellschaft – sei es im Alltag, Restaurant, Hotel oder bei Familie und Freunden zu Hause.
Omotenashi im Alltag
Omotenashi ist für das ungeschulte Auge vor allem im Alltag nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen. Die alltägliche Variante von Omotenashi wird Mitarbeitern durch Personalschulungen (beispielsweise in Convenience Stores) meist antrainiert und ist in diesem Sinne bereits Routine. Ob jedes irasshaimase („Herzlich willkommen!“) dem Grundgedanken von Omotenashi folgend aus tiefster Überzeugung kommt, weiß man selbstverständlich nicht. Dennoch erleichtern viele dieser Aspekte den Alltag oft ungemein.
Die Busfahrt am Morgen
Man ist auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule – der Bus ist so voll, dass man selbst die Haltestange nicht mehr zu fassen bekommt. Doch der Busfahrer bereitet die Fahrgäste per Durchsage auf jede Abbiegung und Weiterfahrt vor einer roten Ampel vor. Was in Deutschland überzogen wirken würde, soll in Japan dafür sorgen, dass man nicht unerwartet auf dem Boden landet.
In der Mittagspause zum Konbini
Mittags bietet es sich an, einen Snack im Konbini zu kaufen, falls man selbst nichts vorbereitet hat. Bei vielen Speisen wird man direkt an der Kasse gefragt, ob diese aufgewärmt werden sollen. Hat man dazu noch ein gekühltes Getränk oder Dessert gekauft, wird der Einkauf auf Wunsch in zwei getrennten Tüten verpackt. So wird sichergestellt, dass z.B. das Eis auf dem Rückweg nicht schmilzt und gefüllte Teigtaschen nicht kalt werden.
Der Wocheneinkauf am Abend
Am Abend hat man unter Umständen noch ein paar Besorgungen im Supermarkt, im Einkaufszentrum oder in der Drogerie zu erledigen. Von Panik am Kassenband, weil man gleichzeitig bezahlt, die letzten Einkäufe einpackt und schon die Artikel vom nächsten Kunden über den Scanner gezogen werden, ist in Japan keine Spur. Im Supermarkt räumen die Kassierer die gekauften Waren vom eigenen Korb nach dem Scan in einen zweiten – feinsäuberlich gestapelt und sortiert, sodass empfindliche Lebensmittel wie Obst und Gemüse nicht beschädigt werden. In Drogeriemärkten werden Hygieneartikel für den Kunden in blickdichten Plastiktüten verpackt. Die Geldscheine werden aufgefächert und laut abgezählt, damit das Wechselgeld sicher stimmt. Anschließend kann man den Einkauf an einem separaten Abstellplatz hinter der Kasse in seine eigenen Taschen einräumen. Für Tiefkühlwaren gibt es kostenloses Eis in Beuteln – so bleibt garantiert alles frisch. Die Omotenashi-Mentalität ist auch hier überall versteckt.
Omotenashi in seiner aufrichtigsten Form
Während viele dieser Dinge in der japanischen Gesellschaft bereits als Selbstverständlichkeit gelten, findet sich an anderen Stellen eine besonders reine und von Herzen kommende Form von Omotenashi.
Es kann sich in den unscheinbaren Aufmerksamkeiten eines Restaurantbesitzers, in den Details bei der Herrichtung eines Hotel- oder Ryokan-Zimmers für die Gäste und anderen Kleinigkeiten widerspiegeln. Auch beim Besuch von Freunden oder einer Gastfamilie ist Omotenashi zu finden. In diesem Kontext wird häufig der Begriff omotenashi ryōri („Omotenashi-Gericht“) für Rezepte verwendet, die man für seine Gäste mit viel Liebe zubereitet.
Ein neuer Denkanstoß
Die Bedeutung von Omotenashi zu verstehen, bedeutet auch, die japanische Kultur auf einer tiefergehenden Ebene zu begreifen. Natürlich ist nicht jeder Mensch permanent zuvorkommend, höflich oder empathisch, aber viele der Werte, die Omotenashi in sich vereint, vermitteln dem Gegenüber ein Gefühl von Freundlichkeit und Aufrichtigkeit, stärken ein positives Miteinander und sorgen dafür, dass man sich willkommen fühlt.
Omotenashi findet sich überall, wo etwas von Herzen kommt. Wer bei seiner nächsten Reise die Augen offenhält, wird die verborgenen Aufmerksamkeiten sicherlich noch mehr zu schätzen wissen.
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