“May you take time to celebrate the quiet miracles that seek no attention.”
– John O‘ Donoghue
Ikigai wird in der westlichen Welt häufig missverstanden – ein Blick in die Google-Bildersuche zeigt etwa, dass es mit dem sogenannten „Purpose”-Diagramm des spanischen Kosmologen Andrés Zuzunaga verwechselt wird. Dieser entwickelte 2011 ein vierkreisiges Venn-Diagramm, dass folgende Fragen stellt: Worin bin ich gut? Was ist meine Leidenschaft? Was braucht die Welt und wofür bezahlt sie?[1]
Ausgangspunkt ist ein Missverständnis, wodurch Ikigai in Blogs mit dem Venn-Diagramm verbunden wurde. Zu dieser Zeit wurde Ikigai als Geheimnis der „Centaurians“ (Menschen, die über hundert Jahre alt sind) auf Okinawa durch die Veröffentlichung des Buches „Blue Zones“ durch Dan Buettner bekannt. Er benennt dort fünf Orte auf der Welt, die sogenannten „Blue Zones“, in denen Menschen besonders lange und gesund leben. Das Studienprojekt untersuchte die Gründe für Langlebigkeit und stoß auf solche Regionen in Griechenland, Sardinien und auch in Japan, insbesondere die subtropische Insel Okinawa. Dort sei Ikigai „der Grund, morgens aufzustehen“. Neben der aktiven Eingebundenheit in sozialen Gemeinschaften und guter Ernährung, sei Ikigai einer der Hauptgründe für die Langlebigkeit und Glückseligkeit der Menschen Okinawas. Der amerikanische Blogger Marc Winn verband die Berichte zu Ikigai aus „Blue Zones“ mit dem Venn-Diagramm von Andrés Zuzunaga – und so entstand die Idee, dass Ikigai ein Diagramm sei, das sich vier Fragen stellt.
Die Ursprünge des Ikigai
Doch Ikigai ist viel mehr: Die eigentliche Bedeutung von Ikigai ist die Frage, was das Leben lebenswert macht. Und das muss nichts mit Geld verdienen zu tun haben. Den Grundstein für eine authentische und zugleich wissenschaftlich fundierte Definition von Ikigai legte die sprachlich und medizinisch hochbegabte japanische Psychiaterin Kamiya Mieko bereits Mitte des letzten Jahrhunderts. Ihr Buch „Ikigai ni tsuite“ („Über das Ikigai“) wurde in den 60er Jahren in Japan bekannt, ist bis heute aber nicht in andere Sprachen übersetzt worden. In ihrer Herleitung des Ikigai untersuchte sie leidende Patienten, die trotz ihrer Krankheit Hoffnung und Lebensfreude entwickelten. In ihren Studien bezog sie sich direkt auf die Lehren des österreichischen Neurologen Viktor Frankl. Dieser entwickelte die Logotherapie und die Idee, dass dem Menschen selbst in größter Bedrängnis – er überlebte vier Aufenthalte in Konzentrationslagern – die Freiheit, sich zu entscheiden, wie er sich gegenüber äußeren Umständen und Einflüssen verhält, nicht genommen werden könne. Die Logotherapie geht ebenso davon aus, dass wir Sinn durch das Leben und Erleben von Werten finden.
Ikigai in der Natur
Kamiya unterschied zwischen Ikigai als eine Quelle des sinnlichen Erlebens und Ikigai-kan; Letzteres meint das „Ikigai-Gefühl“, wenn wir Ikigai-Momente erleben. Sinngemäß schrieb sie in ihrem Werk:
„Es gibt zwei Möglichkeiten, das Wort ‚Ikigai‘ zu verwenden: Es kann sich auf die Quelle oder das Objekt des Lebenswertes beziehen, wie in ‚Dieses Kind ist mein Ikigai‘ – oder es kann sich auf Ikigai als Gemütszustand beziehen. Letzteres ist das, was Frankl den ‚Sinn des Sinns‘ nennt. Ich werde ihn ‚Ikigai-kan‘ nennen, um ihn von dem ersteren ‚Ikigai‘ selbst zu unterscheiden.“
Ein solches Erleben ist im Besonderen in der Natur möglich. Kamiya hat als eine der wichtigsten Säulen des Ikigai die „Resonanz” entwickelt. Damit meinte sie Beziehungen und auch Resonanz in unserer Umwelt.
Das dürfte ganz im Sinne von Hartmut Rosa heute sein. Der Soziologe entwickelte in den letzten 20 Jahren eine Theorie der Resonanz, die mittlerweile weltweit Beachtung findet. Seine These: Die Natur selbst ist ein organischer Ort, um unser Ikigai in Resonanz zu bringen. Das sogenannte Waldbaden („Shinrin Yoku“) ist in Japan nicht nur eine weit verbreitete Kultur, mittlerweile gibt es hierzu bereits ausgedehnte Forschungen, die die gesundheitsfördernden Aspekte belegen – im Besonderen im Umgang mit Stress.
Wie können wir unser Ikigai mit Hilfe der Natur entdecken?
Ikigai lässt sich mit Hilfe eines Kompasses finden, der Werte der japanischen Kultur integriert:
- Gelassenheit: Ikigai findet uns. Wir finden Ikigai auf unserer Reise. Ein Waldspaziergang lässt uns vieles finden: Lebendiges, den Rhythmus der Natur, Organisches, mit dem wir nicht gerechnet haben. Die Natur bittet uns, uns auf sie einzustellen. Wir werden von der Natur zum Entdecken eingeladen und dürfen Gelassenheit einüben.
- Respekt: Ikigai lebt vom Respekt gegenüber der Vielfalt unseres Lebens. In der Natur können wir lernen, die Schönheit, das Alter und die Bedeutung der Natur als unseren Lebensraum zu respektieren. Diesen Respekt können wir auch auf Menschen und sogar auf uns selbst übertragen. Wenn wir lernen, uns vor der Natur zu „verneigen“, können wir Respekt üben.
- Raum, Zeit und Stille: Ikigai finden wir in unerwarteten Momenten, wenn wir Ikigai Raum geben. Die Natur ist ein wunderbarer Ort, um ihr in unserem Leben Raum zu geben und zu lernen, dass die Natur uns willkommen heißt. Das geht beispielsweise gut durch Waldbaden.
- Aufmerksamkeit: Unser Ikigai lebt von unserer Offenheit und Aufmerksamkeit für die vermeintlich kleinen Dinge des Lebens. Je länger wir uns in der Natur aufhalten, desto mehr können wir die kleinsten Organismen entdecken. In der Mikrobiologie der Natur können wir das Leben, die Jahreszeiten und auch Vergänglichkeit entdecken.
- Einzigartigkeit: Wahrnehmung und Wertschätzung der Vergänglichkeit des Augenblicks. Jeder Baum, jedes Lebewesen ist einzigartig. Die Natur lehrt uns, dies zu entdecken – und dabei auch unsere Einzigartigkeit und unser Ikigai zu erforschen.
- Vertrauen: In der echten Natur lernen wir, unserer Intuition zu vertrauen. Das Organische kann uns dazu bringen, eingefahrene Wege zu verlassen und uns neu auf die Natur einzulassen.
- Wurzeln: Draußen entdecken wir die unterschiedlichsten Formen von Wurzeln. Sie wachsen emergent und schlagen ihre eigenen Wege. Viele bleiben für uns unsichtbar. Für Bäume und Pflanzen sind sie jedoch überlebenswichtig. Wurzeln begründen uns Menschen und geben uns Halt. Sie erinnern uns an unsere Herkunft und geben uns Werte für unser Leben.
- Harmonie und Frieden: Ein lebendiges Ikigai zeigt sich durch Harmonie und persönlichen Frieden in unserem Leben. In der Natur können wir Harmonie erfahren – passend zur aktuellen Ära der „schönen Harmonie“ in Japan, Reiwa.
Ein einfacher Waldspaziergang kann eine große Inspiration für unser Ikigai sein. So können wir im sprichwörtlichen Sinne „aktiv“ der Frage nachgehen: „Was macht mein Leben lebenswert?“.
Viele klinische Studien zeigen: Naturerfahrungen wirken beruhigend und unterstützen unser parasympathisches Nervensystem. Das sind beste Voraussetzungen, um kleine wie große Dinge zu entdecken, die unser Leben lebenswert machen. So bringen uns vermeintlich einfache Waldspaziergänge und Wanderungen in der Natur dem Sinn des Lebens näher. Sinn erfahren wir in Resonanz mit der Lebendigkeit der Natur.
Zum Autor
Klaus Motoki Tonn ist der Sohn einer japanischen Mutter und in Deutschland aufgewachsen. Er ist der Autor des Buches „Ikigai: Das Geheimnis der kleinen Dinge” (YUNA Verlag 2023)
Quellen
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