Sprachen wandeln sich mit der Zeit. So ist es auch mit dem Japanischen. Was das Japanische von anderen Sprachen unterscheidet, ist wohl die Tatsache, dass sich im Japanischen sogar Onomatopöien (Lautmalereien) verändern und sich entwickeln. Der renommierte Wörterbuchverlag Sanseidō wählte unter 10 neuen Wörter 2020 zwei Onomatopöien: pien und gorigori.
pien
Dieses Wort, das leises Weinen eines traurigen Kleinkindes nachmacht, war bereits 2018 unter den Jugendlichen gut bekannt und wurde 2019 zum Jugendwort des Jahres gekürt. Interessanterweise wurde zu dieser Zeit gerade das sogenannte Pleading Face Emoji eingeführt, welches genau das Gefühl von pien darstellt. Das Emoji-Gesicht wurde daraufhin pien–gao (pien-Gesicht) genannt. Nicht nur das: Im Februar 2020 wurde das pien no uta (“pien-Lied”) auf Youtube veröffentlicht und bis Ende 2020 mehr als 6 Millionen Mal aufgerufen. Bald darauf wurde das Horrorspiel „PIEN“ kreiert und kostenlos im Internet angeboten. In diesem Spiel, in welchem natürlich das pien-Lied läuft, muss der Spieler in dunklen Kellerräumen immer wieder auftauchende pien-Gesichter mit einer Taschenlampe eliminieren, weil er sonst von einer Figur mit pien-Gesicht attackiert wird, worauf im Nu das ganze Bild mit blut-ähnlicher roter Farbe bespritzt wird und das Spiel endet. Aus einer Onomatopöie entstand auf diese Weise ein richtiges Kultphänomen.
gorigori
Im Vergleich zu pien ist gorigori wenig spektakulär. Es beschreibt das Knabbern der Nagetiere an harten Gegenständen oder einen mit einem Stärkemittel gehärteten Stoff. Manchmal weist es im übertragenen Sinne auf einen besessenen, unflexiblen Charakter hin, wie gorigori no enjinia: ein bessener, unflexibler Ingenieur. Neuerdings kam noch eine Nuance von „außerordentlich“ bzw. „unverkennbar“ dazu: z.B. gorigori no kansaiben, ein unverkennbarer typischer Ōsaka-Akzent bzw. gorigori no taiikukai kei, ein typischer muskulöser Macho-Sportler.
mofumofu
Zu den obigen sollte unbedingt noch dieses Wort hinzugefügt werden. Das Wort beschreibt das weiche, warme, kuschelige Fell der Tiere, welches den Betrachtern ein molliges, angenehmes Gefühl voller Liebe vermittelt. Mit diesem Wort können Pandababys, Katzen, Shibainu-Welpen o.ä. beschrieben werden, jedoch nicht etwa niedliche Eidechsen oder Frösche, denn die tragen ja kein Fell.
Als ähnliche Onomatopöien kennen manche Japanisch-Lernende fuwafuwa. Dieses Wort beschreibt auch etwas Weiches, was jedoch sehr leicht ist und keine Wärme überträgt wie z.B. Löwenzahnsamen oder Vogelfedern. Ein ähnlich klingendes Wort fusafusa beschreibt üppigen Kopfhaarwuchs und bezieht sich nur auf die Eigenschaft des haarigen Gegenstandes. Ein Löwe kann eine Mähne haben, die fusafusa aussieht, aber er wird deswegen nicht als mofumofu bezeichnet, denn es fehlt dem Löwen, der uns lieber fressen würde, der kuschelige Charakter, den mofumofu auszeichnet.
Eine Frage der Erfahrung
Es ist eigentlich sehr erstaunlich, dass solche neuen Onomatopöien von allen Japanischsprachigen, unabhängig von Herkunft und Alter, richtig verstanden und empfunden werden. Dies setzt nämlich voraus, dass sie alle ein gleiches Sprachgefühl und offenbar auch gleiche Erfahrungen (z.B. haptische und klimatische) haben. Es kann an der japanischen Sprache selbst liegen oder aber es ist darauf zurückzuführen, dass wir Japaner in allen Lebensbereichen (Schule, Familien, Reisen, Märchengeschichten) mehr oder weniger Gleiches erleben.
Dies wurde mir neulich klar, als ich mit einem deutschen Übersetzer über ein Kinderbuch sprach. Mein deutscher Kollege übersetzte das zazazaaan der Wellen als “plitsch-platsch”, welches im Japanischen eher pichapicha entsprechen würde. Ich konterte dagegen und wies ihn auf Fotos hin, die mit dem Suchbegriff zazazaaan im Internet angezeigt werden. Alle Fotos zeigten rauhe Wogen des Ozeans, die gegen Felsen schlagen. Mein Kollege war erstaunt und meinte, dass es im Deutschen kein entsprechendes Wort dafür gäbe. Im deutschem Sprachraum fehlen jene kollektiven Erfahrungen, wie sie Japaner haben.
Während wir Japanischsprachigen nur irgendetwas gefühlsmäßig zu murmeln brauchen, um von allen Landsleuten richtig verstanden zu werden, muss man auf Deutsch jeden Gegenstand, jede Umgebung, jede Gefühlsbewegung mit präzisen, unmissverständlichen Wörtern umfassend beschreiben, und das jeden Tag immer wieder. Das ist für Japaner sehr anstrengend, und aus ihren erschöpften Mündern kommt dann nur noch ein schwaches pien.
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