Aufforderungen und Befehle sind für Japaner durchaus ein schwieriges Thema, denn wir werden von klein dazu erzogen, anderen Mitmenschen nicht zur Last zu fallen. Daher wird grundsätzlich keine direkte Aufforderung an andere gestellt. Wenn man dennoch eine Bitte hat, deutet man seinen Wunsch vorsichtig an. Im Gegenzug wird von den (japanischen) Mitmenschen erwartet, den Wunsch der betreffenden Person aus deren Andeutung abzulesen. Dieser Prozess heißt auf Japanisch kūki o yomu – „die Luft lesen“.
Beispiel 1: Es ist sehr warm im Raum, und Yamada-san würde gerne seinen Kollegen, der am Fenster sitzt, bitten, es aufzumachen. Aber er bittet nicht direkt darum, sondern formuliert seinen Wunsch in etwa so:
Beispiel 2: Tanaka-san möchte in der Mensa seinen Kommilitonen bitten, ihm das Salz zu überreichen.
Würden Sie Yamada-san mit „Sō desu ne, atsui desu ne. – Ja, das stimmt. Es ist sehr warm.“ bzw. Tanaka-san mit „Ē, arimasu yo. – Ja, das Salz ist da“ antworten, aber nicht dem Wunsch gemäß agieren, benähmen Sie sich daneben.
Dann würden Sie als „KY“ (umgangssprachliche Abkürzung für kūki ga yomenai = unfähig, die Luft zu lesen/menschliche Kommunikation zu meistern) bezeichnet werden.
Eine Frage der Beziehung
Erst, wenn man die Mitmenschen näher kennt, kann man mit ~te kuremasen ka um Hilfe bitten, natürlich immer mit Zusatz von sumimasen („Entschuldigung [dass ich dich belästigen muss]“).
Beispiele:
Besondere Ausdrucksweisen im Business-Alltag
Natürlich kommt es im Geschäftsleben vor, dass man seine Partnerfirma/Kunden um etwas bitten muss. Hierfür signalisiert man zuerst, dass es einem bewusst ist, mit seiner Bitte den Anderen zu belästigen, und entschuldigt sich dafür im Voraus. Erst dann kann man seine sehr vorsichtig formulierte Bitte mitteilen und hinzufügen, dass man eine Rückmeldung als ein „großes Glück“ empfinden würde:
Diese zugegebenermaßen geschwollene Ausdrucksweise ist wichtig, wenn es um die Kommunikation mit Geschäftspartnern geht und Bestandteil der japanischen Höflichkeitssprache keigo.
Hier ist der Bezug auf gotabō no tokoro (“wohl wissend, dass Sie sehr beschäftigt sind“) zumindest für ältere japanischen Geschäftsleute sehr wichtig, denn isogashii (“beschäftigt sein”) beweist, dass sie in der Firma unentbehrlich sind und ständig gebraucht werden. Dagegen fürchten sie sich vor hima (“nichts zu tun zu haben”).
Sprache im Alltag und im Unterricht unterscheiden sich
Manche Japanisch-Lerner würden fragen, wann und wo sie endlich die „höfliche Aufforderungsform“ der Grundstufe ~te kudasai benutzen können. Leider muss ich ihnen gleich mitteilen, dass dieser Ausdruck im japanischen Alltag kaum vorkommt. Vermutlich wird diese Aufforderungsform in der Grundstufe nur deswegen geübt, damit die Lerner die Anweisungen der japanischen Lehrkraft verstehen können.
Die Lerner würden gleich zurückfragen, wie die im deutschen Alltag sehr häufig auftauchenden „höflichen Aufforderungen“ im Japanischen heißen würden. Hier ist die Tabelle:
Deutsch | ~te kudasai-Form | reale japanische Pendants |
(in der Bahn) Bitte steigen Sie ein! | Notte kudasai! | Dōzo gojōsha kudasai. |
Bitte nehmen Sie Platz! | Suwatte kudasai! | Dōzo okake kudasai. |
Bitte kommen Sie! | Kite kudasai! | Kochira e dōzo. |
Man stellt fest, dass japanische Pendants stets in Verbindung mit keigo stehen, weil eine höfliche Aufforderung normalerweise an Fremde gerichtet wird, welche stets in keigo anzusprechen sind.
Allerdings ist deren verneinte Form ~naide kudasai gängiger, denn die Warnung vor Gefahren hat bekanntlich den Vorrang vor der Höflichkeit.
Die Befehlsform ~nasai wie Benkyō shinasai! (“Lerne!”), Nenasai! (“Geh ins Bett!”) oder Okinasai! (“Steh auf!”) hat jedes Kind zig Mal von den Eltern gehört. Der anderen Imperativform, die erst in der Mittel-/ bzw. Oberstufe gelehrt wird, begegnet man im japanischen Alltag kaum, vielleicht nur im Manga (Shine! (“Stirb!”), Damare! (“Halts Maul”), in den Sport-AGs in Mittel- und Oberschulen und als Hundekommando (Mate! (“Warte!”), Motte koi! (“Bring es her!”).
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