Sie sehen das obere Header-Bild und fragen sich bestimmt, was es damit auf sich hat? Das Wort “Ziege” gibt es selbstverständlich im Japanischen. Doch von der “Ziegenpost” haben Sie sicherlich noch nichts gehört: Es ist eines von vielen Wortschöpfungen, die in den letzten Jahren aufgetaucht sind und neue gesellschaftliche Entwicklungen beschreiben. Manche entstammen den Selbstbezeichnungen bestimmter Gruppierungen, andere aus gesellschaftskritischen Kreisen. Und wiederum andere beschreiben schlicht die “gottesgleiche” Kulanz von Unternehmen gegenüber ihren Kunden. Das ein oder andere Modewort könnten wir auch im Deutschen gut gebrauchen, doch eine Übersetzung ist manchmal schwer bis unmöglich. Aber sie sorgen für tollen Gesprächsstoff unter Freunden und Bekannten!
AK danshi
AK danshi (AK男子) bezeichnet junge Männer, die nicht sonderlich daran interessiert sind, sich durch eine Ehe zu binden, und ist ein relativ neues Wort der jüngeren Generationen. “A” steht für aete… shinai, etwas, das man “bewusst nicht tut”, auch wenn man dazu fähig wäre. “K” kommt von kekkon = Heirat, danshi bedeutet “Mann”. “AK-Männer” wollen:
- ihre Freiheit und Freizeit nicht aufgeben
- ihr Geld nur für ihre eigenen Interessen ausgeben
- sich nicht an eine einzige Frau binden
- ihre Welt nicht mit den anderen teilen müssen
Es wird jedoch vermutet, dass solche Männertypen ab 40 Jahren anfangen, diese Überzeugung zu abzulegen – doch das bleibt abzuwarten.
Fujoshi
Wörtlich “verdorbenes Mädchen”, ist fujoshi (腐女子) eine Bezeichnung für weibliche Otakus und Boys Love-Liebhaberinnen (Manga-Genre, in denen es um romantische Beziehungen zwischen Männern geht). Dieser Genre-Geschmack war besonders in den 90er-Jahren relativ verpönt und negativ angesehen. Daher nannten sich die betreffenden, jungen Frauen selbst “verdorbene Mädchen”, um ihre Position fast trotzig zu behaupten. Fujoshi bedeutet gleichzeitig auch einfach “Frau”, wenn auch mit anderen Zeichen geschrieben (婦女子), sodass hier eine Art Wortspiel enthalten ist.
Inzwischen hat sich das Boys Love-Genre in der Mangawelt etabliert und ist auch international sehr populär – die nun älter gewordenen fujoshi nennen sich mittlerweile kifujin. Kifujin (貴婦人) bedeutet eigentlich “(vornehme) Dame”, doch das Schriftzeichen für fu wurde hier mit dem für “verdorben” (腐) ersetzt.
Nibun no ichi seijinshiki
Nibun no ichi seijinshiki (2分の1成人式) ist eine relativ neue Schulkultur, die es etwa seit den 80er-Jahren gibt. Seijinshiki ist das Volljährigkeitsfest für jene jungen Erwachsenen, die im Jahr zuvor das 20. Lebensjahr vollendet und somit die Volljährigkeit erreicht haben. Es wird am zweiten Montag im Januar als Nationalfeiertag landesweit gefeiert.
Die “halbe seijinshiki” ist daher allen 10-jährigen Kindern gewidmet. Diese sollen im dritten Trimester des Schuljahres (Januar bis März) einen Dankesbrief an ihre Eltern schreiben und erhalten in einer Schulzeremonie feierlich eine Urkunde zum Erreichen der (halben) Volljährigkeit. Dieses Fest wird nicht landesweit gefeiert und ist u. a. wegen der möglichen Diskriminierung von sozial benachteiligten Kindern (die z. B. Opfer von häuslicher Gewalt oder Armut sind) sowie von Scheidungskindern oder Halb-/Vollwaisen umstritten.
Riajū
Riajū (リア充) ist eine Abkürzung des umgangssprachlichen Ausdrucks riaru ga jūjitsu shiteiru: “Das reale Leben (riaru) der betreffenden Person ist erfüllt und perfekt (jūjitsu) “. Es beschreibt vor allem Personen, die ihre eigenen Hobbys oder Beziehungen in vollen Zügen genießen oder aus Sicht von anderen mit einem “perfekten Leben”, z. B. im Beruf oder Liebesleben, gesegnet sind. Dabei schwingt oft Eifersucht oder Ironie mit. Der Begriff wurde ab Mitte der 2000er-Jahre in japanischen Onlineforen und sozialen Medien populär und wird oft von Mädchen und Frauen genutzt.
Jōkyū kokumin
Das “Volk der Oberschicht” (上級国民) wird als Gegenbegriff von ippan kokumin (一般国民), “gemeines Volk”, benutzt. Er tauchte 2015 zum ersten Mal auf, als der Geschäftsführer des Organisationskommitees der Olympischen und Paralympischen Spiele, Mutō Toshirō, sich zum Plagiatsvorwurf gegen den Designer Sano Kenjirō (der 2015 das Logo der Olympischen Spiele entwarf, welches aufgrund dieser Vorwürfe letztlich nicht angenommen wurde) äußerte. Er sagte, dass dessen Design “vom gemeinen Volk nicht verstanden würde”, woraufhin kritisiert wurde, ob nur das jōkyū kokumin fähig und befugt wäre, ein solches Design zu beurteilen.
Weitere negative Schlagzeilen machte das Wort 2019, als der ehemalige hochrangige Beamte des japanischen Ministeriums für Industrie und internationalen Handel, Iizuka Kōzō (Jahrgang 1931), in Tōkyō eine junge Mutter und deren Kind tötete sowie weitere Fußgänger verletzte, nachdem er eine rote Ampel überfuhr. Iizuka wurde nie verhaftet – die Polizei begründete es damit, dass dies aufgrund seines hohen Alters und Vorerkrankungen nicht nötig sei. Das zog wiederum heftige Kritik und Empörung nach sich, schließlich, so wurde von der Öffentlichkeit argumentiert, sei es ähnlichen Fällen fast immer zu einer Verhaftung gekommen, unabhängig von Alter oder Gesundheitszustand der Verdächtigen. Iizuka sei ein “Bürger der Oberklasse”, für den aufgrund seiner sozialen und politischen Stellung die normalen Regeln nicht gelten würden.
Der Fall befeuerte die Diskussion um die polizeiliche Rechtsdurchsetzung, soziale Ungerechtigkeit sowie die Fahrtauglichkeit von älteren Mitmenschen. Der mittlerweile 90-jährige Iizuka wurde 2021 zu fünf Jahren Haft verurteilt, doch er bestritt bis zuletzt seine Schuld an dem Unfall.
Kyōkō saiketsu
Kyōkō saiketsu (強行採決) heißt wörtlich “Gewaltabstimmung” und beschreibt, dass manche Gesetze im japanischen Parlament ohne die benötigte Zweidrittelmehrheit durchgepeitscht werden. Der Hintergrund dieses Phänomens liegt in der japanischen sozialen Gepflogenheit, Auseinandersetzungen häufig als “unhöflich” bzw. “streitsüchtig” abzutun. Japanerinnen und Japaner sind oft nicht unbedingt darin geschult, konstruktiv miteinander zu diskutieren und vermeiden daher leider auch sachliche Debatten. Das führt häufig zu mangelnden Diskussionen im Parlament und zu teilweise “gewaltsamen” Abstimmungen.
Gohan ronpō
Dieses Wort bedeutet wörtlich “Reis-Logik” (ごはん論法) und könnte man im weitesten Sinne mit dem “überspezifischen Dementi” gleichsetzen. 2018 hat es der Begriff sogar in die Top 10 der japanischen Schlag- und Modewörter des Jahres geschafft und wurde durch die Uni-Professorin Uenishi Mitsuko geprägt. Gohan ronpō beschreibt die (politische) Taktik, unliebsamen Fragen auszuweichen, in dem man sie absichtlich missversteht. Ein Beispiel:
A: Gohan o tabemashita ka. – Haben Sie gegessen?
B: Iie, gohan wa tabeteimasen. – Nein, ich habe nichts (keinen Reis) gegessen.(Dann stellt sich heraus, dass A doch etwas gegessen hat)
B: Gohan o tabemashita ne. – Sie haben doch gegessen.
A: Iie, gohan wa tabeteimasen. Pan shika tabemasen deshita. – Nein, ich habe nichts (keinen Reis) gegessen. Ich habe nur Brot gegessen.
Dieses Beispiel funktioniert nur deshalb, weil in der japanischen Sprache gohan sowohl “Reis” als auch “Mahlzeit” bedeuten kann. Das führt zu widersprüchlichen Aussagen, die streng genommen aber nicht inkorrekt sind und bewirken, das Gegenüber zu verwirren oder mit einer unklaren Antwort abzuspeisen. Der Taktik haben sich vor allem Politiker der japanischen Regierungspartei LDP schuldig gemacht, weshalb sie auch kritisch gesehen wird.
Tsundoku
Tsundoku (積読) ist eine umgangssprachliche Form des Verbs tsunde oku (積んでおく) – “etwas aufeinander stapeln und so stehen lassen” – und bezeichnet Bücher, die man zwar gekauft und zu Hause aufgestapelt, jedoch noch nicht gelesen hat. Hierbei hat das enthaltene Wort doku (読) gleich zwei Wortherkünfte: Verkürzung von der Verbendung –de oku (でおく) = stehen lassen, sowie dokusho (読書) = das Lesen.
Kami taiō
Wörtlich übersetzt bedeutet dieser Begriff “göttliches Entgegenkommen” (神対応) und beschreibt, wenn ein Unternehmen bzw. ein Geschäft auf eine Kundenreklamation sehr freundlich und kulant im Sinne des Kunden reagiert, d. h. ihm fast wie eine “Gotteshand” entgegenkommt. Wie Sie sich denken können, ist der Begriff durchaus ironisch gemeint.
Yagisan yūbin
Die bereits genannte Professorin Uenishi Mitsuko prägte 2021 eine neue Bezeichnung für die Trickrhetorik der Regierungspartei LDP: yagisan yūbin (やぎさんゆうびん), die “Ziegenpost”. Der Anlass war, dass der damalige japanische Premierminister Suga Yoshihide auf Fragen eines Oppositionspolitikers im Unterhaus immer wieder mit dem Vorlesen desselben Textes antwortete – und das insgesamt 17 Mal.
In Japan gibt es ein gleichnamiges Kinderbuch, das von zwei Ziegen handelt, die sich gegenseitig Briefe schreiben. Jedes Mal, wenn ein Brief ankommt, frisst ihn die hungrige Empfängerziege. Weil diese aber den Inhalt nicht gelesen hat, muss sie die andere Ziege in einem Antwortbrief fragen: “Was hast du mir geschrieben?”. Die andere Ziege frisst jedoch ebenfalls alle Briefe, die sie bekommt, und muss anschließend zurückfragen, was ihr die andere Ziege denn geschrieben hätte. So geht das Hin und Her endlos weiter, genauso wie die Antwort des Premierministers im Parlament. Ob sich diese neue sozialkritische Bezeichnung der Professorin etablieren wird, wird sich wohl noch zeigen.
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