Japan - mit dem zug von Nord nach Süd 19-Tage-Studienreise

Japanische Dialekte: Mundart vs. Standard

Aya Puster
Aya Puster

In Japanischkursen wird in der Regel das sogenannte "Standardjapanisch" gelehrt – das erst im 19. Jahrhundert durch die japanische Regierung eingeführt wurde. Dabei werden im ganzen Land viele verschiedene Dialekte gesprochen, die alle auf einen Ursprung zurück gehen.

kanji wörterbuch
(c) ma-chan / photo-ac

Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts läuft im japanischen Fernsehen die beliebte Sendung The Knight Scoop, in der Journalisten und Moderatoren als vermeintliche Detektive eine Antwort auf Zuschauerfragen recherchieren und präsentieren. So stellte eines Tages ein Zuschauer die Frage, wo in Japan wohl die Sprachgrenze der Schimpfwörter aho und baka liege, denn bekanntlich benutzen die meisten in Ōsaka aho, während viele Tōkyōter baka rufen, wenn sie „Dummkopf“ sagen wollen. Die Recherche ergab jedoch nicht nur Material für eine einzelne Sendung, sondern führte zur Entwicklung einer umfangreichen Studie über 580 Seiten, die sogar bei einer Tagung der Dialectological Circle of Japan vorgetragen wurde. Das Knight Scoop-Team hatte nämlich eine verblüffende Entdeckung gemacht.

Das Team hatte mit Hilfe von umfassenden Umfragen über Dialekte herausgefunden, dass sich die japanische Sprache in vielen hunderten Jahren wie Ringe auf der Wasseroberfläche in konzentrischen Kreisen von der ehemaligen Hauptstadt Kyōto in die Provinzen ausgebreitet hatte. Dieses Phänomen betraf nicht nur aho und baka, sondern auch zahlreiche andere Wörter, sodass angenommen wird, dass das vor tausend Jahren gängige Altjapanisch heute noch in äußeren Präfekturen gesprochen wird.

Folgende Abbildung zeigt die Verbreitung der japanischen Ausdrücke für„erschöpft sein“. In der Mitte um Kyōto sagt man dazu shindoi, während man am Rand, also im äußersten Norden und in Kyūshū, seine Erschöpfung mit kowai ausdrückt. Shindoi in Kyōto ist das neuere Wort, während das klassische kowai dort bereits vor mehr als tausend Jahren benutzt wurde.

karte dialekt japan
Atlas aus dem Buch von Osamu Matsumoto „Zenkoku aho baka bunpukō“, Shinchō bunko, 2013, S. 469.

Das heutige Standardjapanisch wurde im 19. Jahrhundert vom Kultusministerium mehr oder weniger künstlich und vorwiegend aus dem Edo-Dialekt gebildet. Niemand spricht dieses Standardjapanisch als Muttersprache, in dem der so facettenreiche, lebendige Wortschatz des Edo-Dialekts verloren ging. Dieser wird kaum noch gesprochen und ist nur noch in rakugo-Geschichten oder in der Literatur der Meiji-Zeit zu finden. Manche Japaner in äußeren Präfekturen haben bittere Kindheitserinnerung an die Einführung des Standardjapanischen. Während der Meiji-Zeit bzw. der Nachkriegszeit wurde es den Schülern in Okinawa oder in Nordjapan regelrecht aufgezwungen und ihr Dialekt wurde im Schulhof verboten. Wer dagegen verstieß, musste sich ein sogenanntes „Dialekt-Schild“ mit der Aufschrift „Ich habe meinen Dialekt gesprochen“ um den Hals hängen, was als eine große Schande galt. Auf diese Weise „lernten“ Kinder, dass ihre Dialekte etwas Beschämendes seien. Heute noch schämen sich besonders Nordjapaner für ihre Mundart, können mit dieser neuen Entdeckung jedoch stolz behaupten, dass sie die Kyōtoer Hofsprache von vor tausend Jahren sprechen.

Nun etwas Heiteres: Es gibt im Internet zahlreiche Seiten (z.B. Monjiro) und auch Apps zum Herunterladen, die Standardjapanisch in die unterschiedlichen Dialekte umwandelt. Es wird Japanischlernenden einen Riesenspaß machen, die gelernten japanischen Sätze in verschiedene nicht standardsprachliche Varietäten zu konvertieren und mit diesen ihre japanischen Freunde zu verblüffen.

Schon allein ein einfaches Wort wie arigatō („Danke“) kann so vielfältig sein:

Kanazawaan’yato
Kyōto,  Ōsakaōkini
Izumo, Ehimedandan
Okinawanifēdēbiru

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Der Satz „Man sollte früher ins Bett gehen, wenn man erschöpft ist“ klingt in verschiedenen Dialekten wie folgt:

StandardjapanischTsukareta kara, hayaku neta hō ga ii desu.
KyōtoTsukareta sakai, hayou neta hō ga yoroshi no to chigai massharo ka.
ŌsakaTsukareta sakai, hayou neta hō ga ee n to chau ka.
AkitaTsukareda kara, hayagu neda hō ga e.
YamagataKutabitta kara, warawara neda hō ga ii su.
EhimeErai ken, hayou neta hō ga ee.
FukuokaKitsui ken, hayou neta hō ga yoka.
NagasakiKitsui ken, hayou neta hō ga kanman.
KumamotoTsukareta ken, hayou neta hō ga yoka.
NagoyaTsukareta de, hayō neta hō ga ii desu.
NaganoKattarui kara, hayaku neta hō ga ii desu.

(Vergleicht man diese mit der Karte aus der Abbildung, kann man feststellen, dass die meisten dieser Mundarten mit jenen konzentrischen Kreisen übereinstimmen.)

Auch die Namen zahlreicher Speisen heißen je nach Region anders:

 Südjapan (Kyūshū)Westjapan (um Kyōto)Ostjapan (um Tōkyō)
Frittierte Fischpastetsuke agetempurasatsuma age
Klöße mit anko-Bohnenkaiten‘yakiōban‘yakiimagawayaki
getrocknete kleine Fische für dashi-Suppeirikoiriko
dashi jako
niboshi

Nicht nur die Wörter, sondern auch die Betonung ändern sich je nach Region. Auf der Strecke zwischen Kyōto und Tōkyō findet rund um die Stadt Atami eine Verschiebung dieser statt. Dies merkt man an der richtigen Aussprache der Städtenamen auf der Strecke:

Kyōto – Maibara – Nagoya – Atami || Odawara – Yokohama – Shinagawa– Tōkyō

Bei den Städtenamen westlich von Atami wird die erste Silbe höher ausgesprochen, bei den Namen östlich davon ist es umgekehrt.

Genauso werden die meisten Adjektive im Kansai-Dialekt (im Westen von Honshū gesprochen) mit der Betonung auf der ersten Silbe ausgesprochen, während im Bereich um Tōkyō (wo “Standardjapanisch” gesprochen wird) genau das Gegenteil der Fall ist:

Mit der Sprache ändern sich ebenfalls die Kultur und das Alltagsleben. So tragen manche Gerichte nicht nur unterschiedliche Namen, sondern werden auch in der Zubereitung innerhalb der Regionen unterschieden, wie etwa das berühmte Beispiel Okonomiyaki.

Hiroshima-OkonomiyakiŌsaka-OkonomiyakiTōkyō-Monjayaki
Wird mit Nudeln zubereitet. Die Zutaten (Weißkohl, Eier, Nudel usw.) werden nicht vorher im Teig gemischt, sondern auf den Teig in der Pfanne gelegt.Teig und Fleisch (Schwein/ Rind), Tintenfisch, Weißkohl usw. werden miteinander vermischt und erst dann in die Pfanne gelegt. Wird ohne Nudeln zubereitetKlein geschnittenes Fleisch und Weißkohl werden zuerst gebraten. Darüber wird der dünne Teig gegossen und gemischt.

Man staunt nicht schlecht, wenn man nicht das serviert bekommt, was man eigentlich bestellen wollte. So ist der Dialekt für uns nicht nur im Kopf und Ohr, sondern am ganzen Leib spannend.

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