Zunehmend wird in Deutschland über geschlechtergerechte Sprache debattiert. Während ein Teil der Bevölkerung mit „Stop Gender“-Schildern auf Demonstrationen marschiert,[1] argumentieren Befürworter:innen, dass inkludierende Sprache die Wahrnehmung des Menschen auch im jungen Kindesalter prägt,[2] sowie dass sich gendergerechte Sprache positiv auf die zukünftige Berufsperspektive junger Mädchen auswirkt.[3] In Deutschland verfolgt Gendern das Ziel, Frauen und Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, sprachlich zu inkludieren.
Während sich in Deutschland diverse Nachrichtenagenturen und Soziale Medien geschlechterinkludierende Sprache zu eigen gemacht haben, interessiert sich in Japan kaum jemand für die eigene Misogynie hinter japanischen Schriftzeichen. Dabei braucht man nur einen flüchtigen Blick auf die Sprache zu werfen, um zu realisieren, wie Diskriminierung in Schrift und Sprache von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Patriarchale Kanji
Kanji, eine japanische Schrifttradition chinesischen Ursprungs, gibt es in Japan seit dem 5. Jahrhundert.[4] Um die Problematik der Kanji zu verstehen, muss man sich zunächst verinnerlichen, dass sich die Schriftzeichen aus sogenannten Radikalen zusammensetzen. Kombiniert man diese Radikale, ergibt sich eine neue Bedeutung. So kann man, wenn man nur die Radikale kennt, in gewissem Maße die Bedeutung eines unbekannten Schriftzeichens erahnen.
In der VR China erregte vor über zehn Jahren ein junger Rechtsanwalt großes Aufsehen, als er sich in seinem Blog über 16 sexistische Schriftzeichen beklagte und die Misogynie der Zeichen betonte. Er argumentierte, dass die Zeichen auch das Weltbild von Kleinkindern beeinflussen und Frauen despektierlich darstellen.[5]
Professorin Yuyama der Tokyo Metropolitan Universität erklärt, woher die Misogynie stammt. In der Antike wurde physische Stärke sehr stark gewichtet, wodurch Frauen, welche im Allgemeinen physisch unterlegen waren, von Bildung ausgeschlossen wurden. In der Gesellschaft war männliche Interaktion dominant. Infolgedessen wurde die Schrift von Männern monopolisiert. Im Entstehungsprozess der Kanji wurden aus diesem Grund weibliche Radikale häufig mit negativen Eigenschaften verknüpft.[6]
Unterschiedliche Konnotationen zwischen “Mann” und “Frau”
Bereits in der ersten Grundschulklasse lernen Schüler:innen, dass das Schriftzeichen für “Mann” 男 aus den Zeichen für “Reisfeld” 田 und die “Kraft” 力 kombiniert wird. Der Mann symbolisiert demnach die Kraft auf dem Feld. Aus dieser Kombination resultieren Schriftzeichen wie “Mut” 勇, welches das Radikal für “Mann” beinhaltet.
Beim Schriftzeichen für “Frau” 女 hingegen steht das Kanji erstmal für sich allein, ohne eine Kombination aus mehreren Radikalen. Es gibt Quellen, die darauf hindeuten, dass das Kanji von einem Bild einer Frau abgeleitet wurde, die ihre Hände zusammenfaltet und auf dem Boden kniet.[7] Dies sind allerdings Vermutungen, die nicht belegt sind.
Je mehr Kanji Kinder in der Schule lernen, desto häufiger treffen sie in diversen Kontexten auf Zeichen, in denen das Radikal für Frau zu finden ist und die eine negative Konnotation haben:
Bedeutung | Kanji |
Wut | 怒 |
Eifersucht/Neid | 嫉妬 |
Abneigung | 嫌 |
Gier | 婪 |
Dämon | 妖 |
Diener | 奴 |
Vergewaltigung/Ehebruch | 姦 |
Wahnvorstellung | 妄 |
Unzucht/List | 奸 |
Ferner stellt das Zeichen für “Braut/Ehefrau” 嫁 eine Kombination aus “Frau” 女 und “Haus” 家 dar. Das Zeichen suggeriert, dass eine Ehefrau zuhause bleibt. Das Schriftzeichen für “Prostitution” 妓 beispielsweise besteht aus der Kombination von “Frau” und “dienen” 支. Die “Schwiegermutter” 姑 ist die Kombination aus “Frau” und “alt” 古, während der “Schwiegervater” 舅 nicht auf sein hohes Alter reduziert wird; das Zeichen 臼 bedeutet “Holzbottich-Mörser”.
Widerstand gegen sprachliche Emanzipation
Wie bereits zu Beginn geschrieben, ist sprachliche Emanzipation in Deutschland ein weit untersuchtes Phänomen. Im Jahr 2021 änderte der deutsche Duden 12.000 Personenbeschreibungen im Zuge der geschlechtergerechten Sprache.[8] In Japan hingegen findet sehr wenig wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Thematik statt.
Auffällig ist, dass der Widerstand gegen geschlechtersensible deutsche Sprache häufig von Männern geführt wird.[9] [10] Dabei werden Argumente herangezogen wie: die Grammatik gerate ins Stocken,[11] durch die sprachliche Sichtbarmachung werde das Geschlecht stets betont[12] oder es “nerve” einfach nur[13]. Ähnlich verhalten sich japanische Männer in Online-Foren,[14] die zugegebenermaßen keine breite Öffentlichkeit widerspiegelt, aber dennoch den Tenor bestimmt.
Daher ist es wichtig, auf wissenschaftliche Untersuchungen zu schauen. In diversen Studien wurde belegt, dass geschlechtergerechte sprachliche Prägung auch das Bewusstsein prägt.[15] Folglich sollte eine sensible Sprache genutzt werden, damit Eigenschaften wie “Wut”, “Eifersucht” oder
“Ehebruch” nicht ausschließlich mit Frauen assoziiert werden.
Alternative Schreibweisen
Zugegeben, bei Schriftzeichen wie Kanji ist eine sofortige Umsetzung nicht einfach, denn das Frauenradikal in japanischen Schriftzeichen kann nicht einfach durch ein simples Gendersternchen ersetzt werden. Eine Alternative wäre z.B. statt des Kanji die jeweilige Schreibweise in Hiragana oder Katakana zu verwenden, solange keine andere Lösung gefunden wird. Die genannten japanischen Silbenschriftarten haben keine inhärente Bedeutung und eine sehr hohe Verbreitung in der japanischen Schrift. Viele Wörter, welche es traditionell nicht in der japanischen Sprache gibt, wie bspw. “Tomate”, “Computer” oder “Volkswagen”, besitzen keine Kanji-Repräsentation und müssen daher durch Silbensprache abgebildet werden.
Kanji haben seit ihrer Entstehung mehrfache Vereinfachungen sowie Veränderungen durchlaufen[16]. Wenn genug Menschen aufmerksam denjenigen zuhören, die der Diskriminierung ausgesetzt sind, könnten auch Änderungen der Schreibweise der Kanji sensibel umgesetzt werden. Eine Änderung der gängigen Praxis ist nicht ausgeschlossen.
Quellen:
[1] https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/259953/gender-und-genderwahn
[3] https://idw-online.de/de/news632492
[4] https://kotobaken.jp/qa/yokuaru/qa-66/
[5] http://lib21.blog96.fc2.com/blog-entry-1054.html
[6] Yuyama, Tomiko (2010): „About Mini Symposium ‘Words, Letters, Women’s Liberation’“, URL: https://core.ac.uk/download/pdf/51928657.pdf
[7] https://kanjinonaritachi.com/808.html
[8] https://www.ndr.de/kultur/Gendern-Online-Duden-aendert-Personenbezeichnungen,duden132.html
[11] https://www.cicero.de/kultur/gendergerechte-sprache-gendern-argumente-genderstern-sprachwissenschaft
[12] https://www.piqd.de/feminismus/ein-argument-gegen-gendern-gibt-es-dieses
[15] https://netzpolitik.org/2020/warum-wir-geschlechtergerechte-sprache-verwenden/
[16] https://blog.chinatours.de/2013/07/07/die-geschichte-der-chinesischen-schrift-kalligraphie/
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