Es ist nicht festzustellen, seit wann es in Japan eine Frauensprache gibt. Fest steht, dass Frauen in der Heian-Zeit (8.-12. Jahrhundert) davon abgehalten wurden, Kanji und somit die Lektüre chinesischer Literatur zu erlernen, die nur den Männern vorbehalten waren. Sie haben jedoch mit dem Silbenalphabet Hiragana ihre eigene Schrift entwickelt und so die Freiheit erlangt, die klassische Literatur Japans zu ihrem Höhepunkt zu führen. Die Männer, die mit Chinesisch-Kenntnissen Akten und Dokumente lesen durften, hatten dagegen keinen Zugang zur freien Schriftstellerei, so dass z.B. der Beamte Ki no Tsurayuki erst als Frau getarnt sein Reisetagebuch Tosa nikki veröffentlichen konnte.
Allerdings brachte die Frauensprache in der modernen Zeit kein Glück für Frauen. Die Essayistin und Sprachwissenschaftlerin Jugaku Akiko verglich die Sprache der journalistischen Zeitschriften und die einer sogenannten Regenbogenpresse und stellte u. a. Folgendes fest: Die Frauenzeitschrift schmückte viele Sätze mit Ausrufezeichen und beendete manche Sätze mittendrin ohne Prädikat. Außerdem benutzte sie wenig Eigennamen und bot somit wenig neue Information. Jugaku weist auch darauf hin, dass Japanerinnen tendenziell sehr leise redeten, keine klare Aussage machten und fremdorientiert seien. Diese Art der japanischen Sprache hat laut Jugaku in der Tat das Leben der Frauen tief beeinflusst. Journalistin Yamazaki Hiroko untersuchte die Redestimmen der Frauen in verschiedenen Ländern und fand heraus, dass Japanerinnen im Tonbereich 300-350 Hertz reden, was viel höher ist als bei Frauen mit anderen Muttersprachen.
“Frauenhafte” Sprache führt zu “frauenhaftem” Verhalten
All dies dient dazu, die als onnarashisa bezeichneten, als typisch frauenhaft geltenden Verhaltensweisen hervorzurufen, die als erstrebenswert für Frauen gelten. Dagegen blieben japanische Männer meist wortkarg, d. h., von Männern werden Taten statt Worte erwartet. In manchen Filmen kommt daher der Ausdruck „Otoko wa damatte …“ („Männer sollen … tun, ohne darüber viele Worte zu verlieren.“) vor.
Die Frauen- und die Männersprache haben genderspezifische Eigenschaften. Es gibt frauenspezifische Satzendpartikel wie yo, ne, wa, no und männerspezifische zo, ze, na. Die beiden haben auch jeweils einen eigenen Wortschatz, wie das untere Beispiel zeigt:
Frauen | Männer | |
ich | watashi | boku / ore |
du | anata | kimi / omae |
das Essen | gohan | meshi |
essen | taberu / itadaku | kuu |
lecker | oishii | umai |
satt | onaka ga ippao | haraippai |
hungrig | onaka ga suita | harahetta |
Die genderspezifische Sprache hat den Vorteil, Aussagen in Schriftform direkt einem Geschlecht zuordnen zu können.
Ein Beispiel (in einem Restaurant):
A: Ich nehme eine Pizza. Was möchtest du? | A: Watashi Piza ni suru wa. Anata wa? |
B: Mir reicht ein Salatteller. | B: Ore sarada de ii. |
A: Oh, was ist los? | A: E, dōshita no? |
B: Ich habe so viel zu Mittag gegessen und bin satt. | B: Ore mō hirumeshi kutta kara, hara ippai nan da. |
Am deutschen Dialog ist nicht ersichtlich, ob die Personen A und B männlichen oder weiblichen Geschlechts sind. Aber im Japanischen ist sofort erkennbar, dass es sich bei A um eine Frau und bei B um einen Mann handelt.
Gyaru-go: Rückkehr zur reinen Frauensprache
Diese in der japanischen Literatur gängige, typische Frauensprache hört man heutzutage im Alltag kaum noch. Im Geschäftsbereich spricht „frau“ nicht anders als „man“. Aber ein neuer Trend wird in der Netzwelt beobachtet: Manche sogenannte gyaru (von engl. girl, Mädchen), jene supermodisch gestylte Mädchen, sprechen eigene avangardistische gyaru-go („Mädchensprache“) bzw. JK-go (joshi kōkōsei-go = Sprache der Oberschülerinnen). Hier ein paar Beispiele:
JK-go | Bedeutung | Erklärung |
kusa haeru | lustig | In den sozialen Medien schrieb man für J auf Japanisch 笑, das Zeichen für warau (=lachen). Dieses wurde durch den Anfangsbuchstaben „w“ von warau ersetzt. Wenn man im Sinne von „viel Lachen“ wwwwwwww tippt, sieht es aus, als ob Gräser (kusa) wachsen (haeru). |
sorena | Ja, das stimmt | Das Wort wurde von “Sō desu ne.” bzw. “Sono tōri desu.” (So ist das.) abgeleitet. |
Verb/Adjektiv + mi | Substantivierung des betroffenen Wortes | Wakarimi bedeutet „Ich verstehe, was Du meinst.“, „Tsurami (tsurai (= anstrengend) + mi) ga sugoi“ heißt „Mein Kummer ist groß.“ |
fabo | Es gefällt mir. | Vom englischen favorite abgeleitet. |
wanchan | Es gibt noch eine Chance | Vom engl. one chance abgeleitet. Dagegen bedeutet naichan (no chance) „(Du hast) keine Chance.“ |
卍 (Swastika, Glückssymbol in asiatischen Ländern) | wirklich, echt / gut daran sein | Das buddhistische Friedenszeichen manji steht hier für „echt, wirklich“, das im Jugendjargon maji heißt |
Die oben genannten Beispiele werden natürlich nicht von Jungs benutzt. Somit sind wir wieder zum Ausgangspunkt der Heian-Zeit zurückgekehrt, in welcher Frauen ihre eigene Sprache entwickeln, die für Männer unerreichbar ist.
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