Japaner gelten in Europa meist als höflich oder gar zurückhaltend, schüchtern und scheu. Woran liegt das? Einerseits vermittelt ihr meist dezentes, reserviertes Auftreten diesen Eindruck. Andererseits sprechen sie ihren Gesprächspartner selten mit dem Namen an; wenn überhaupt, dann in respektvoller Distanz nur mit dem Familiennamen. Das heißt natürlich nicht, dass Japaner nicht ebenfalls mit Leib und Seele leidenschaftlich lieben können.
Das Tabu, einen Namen zu rufen
In vielen Teilen der Welt war es früher tabu, die Namen der Mitmenschen laut zu rufen. Im alten Japan herrschte der Aberglaube, dass böse Geister Unheil bringen könnten, wenn sie den Namen einer Person hörten. Daher wurde man bis zum Erwachsenwerden nur mit einem besonderen Rufnamen und später dem Berufstitel angesprochen, nie aber mit dem wahren Namen. Fragte ein Mann nach dem Vornamen einer Frau, so kam diese intime Frage einem Heiratsantrag gleich. Mit der Offenbarung ihres Namens gab die Frau ihr Ja-Wort.
Damals drückten die Liebenden ihre Zuneigung durch Gestik oder Andeutungen aus, wie z. B. in waka – Gedichten mit 31 Silben. Man musste allerdings ein feines Gespür haben, um die Liebeserklärung des Verfassers herauszuhören. Der oder die Angebetete wurde darin nie namentlich genannt, höchstens mit kimi (du) angesprochen. Die Liebeserklärung wurde in Phrasen verpackt, wie z. B. sode o furu (Ärmel schütteln).
In der „Geschichte von Genji“ (Genji monogatari) von Murasaki Shikibu aus dem 10. Jahrhundert taucht folgendes Gedicht auf:
Mono omou ni tachimaubeku mo aranu mi no sode uchifurishi kokoro shirikiya.
物思うに 立ち舞うべくもあらぬ身の袖うちふりし 心知りきや
Ich bin so in Sie verliebt, dass ich kaum aufstehen und tanzen kann. Wissen Sie denn nicht, dass ich Ihnen die Ärmel schüttelte?
Dieser Ausdruck gab übrigens dem furisode, einem japanischen Kimono für Frauen, seinen Namen. Vor allem unverheiratete Frauen tragen diesen Kimono mit langen Ärmeln (zum Schütteln), während Verheiratete nur den tomesode mit kurzen Ärmeln tragen sollen.
Geborgenheit in der romantischen Liebe
Als die Japaner im 19. Jahrhundert die europäische Literatur kennenlernten, wurden sie zum ersten Mal mit der direkten Liebeserklärung „Ich liebe dich“ konfrontiert. Wörtlich kann dieser Satz zwar ins Japanische übertragen werden: „Watashi wa anata o ai shimasu.“ Aber Natsume Sōseki, einer der großen Literaten Japans, soll diese wörtliche Übersetzung korrigiert haben: Seinen Studenten der englischen Sprache erklärte er, dass man in Japan in dieser Situation eher „Tsuki ga kirei desu ne“ (Der Mond leuchtet so schön) sagen würde.
Auch in Filmen von Yasujiro Ozu oder im Anime „Stimme des Herzens“ von Studio Ghibli zeigen Szenen die sich liebenden Hauptfiguren von hinten, gemeinsam den Mond betrachtend. Das japanische Liebespaar verschmilzt in einer gemeinsamen Sphäre, während die direkte Liebeserklärung europäischer Art erst den Aufbau eines gemeinsamen Raums, in dem die Liebe bestehen kann, erfordert.
Woher kommt diese Nebeneinanderhaltung der Japaner? Der bekannte Psychologe Kitayama Osamu untersuchte einst 350 Ukiyo-e-Bilder mit Mutter-Kind-Motiven und stellte fest, dass fast 50 % davon die beiden nebeneinander, ein Objekt betrachtend zeigten. Laut Kitayama neigen die Menschen in dieser Position dazu, Gefühle wie Wärme, Vertrauen, Hoffnung, aber auch Trauer des Gegenübers zu teilen. Die Geborgenheit der Mutter-Kind-Beziehung hat in Japan ihren Weg in die romantische Liebe gefunden, während in europäischen Ländern die Liebe eine gewisse Spannung ausübt und regelmäßig durch Worte und Gesten bestätigt werden will.
Verborgene Liebesandeutungen
Japanische Paare nennen sich daher oft, sobald sie Kinder haben, gegenseitig otōsan (Vater) bzw. okāsan (Mutter). Genau wie die Kinder, die in der Geborgenheit der Liebe ihrer Eltern aufwachsen, teilen auch Paare untereinander diese Empfindungen und sprechen diese nicht explizit aus.
Manche, insbesondere Ältere, genieren sich sowieso, ihren Gefühlen direkt Ausdruck zu verleihen. Einmal habe ich bei einem älteren japanischen Ehepaar erlebt – der Mann war mittelständischer Unternehmer –, dass ihn seine Ehefrau auch zu Hause shachō (Herr Geschäftsführer) nannte, während er sie nur mit „Oi, Hei“ (He, Hei) ansprach. Normalerweise nennen japanische Frauen ihre Männer anata (du), und diese sie kimi (du).
Kosenamen wie itoshii hito (mein/e Teuerste/r) findet man eher in der Literatur der Meiji-Zeit. Omae bedeutet auch „du“, wird jedoch in etwas legereren Situationen von Männern vorwiegend für deren Kumpels, aber auch für Freundinnen und Ehefrauen benutzt. Frauen wiederum rufen so ihre Haustiere. Direkte Anreden werden in Japan allerdings so oder so vermieden.
Der kurze Satz „Suki desu“ kommt dem deutschen „Ich liebe dich“ am nächsten, obwohl er eigentlich das Gefühl des Sprechers und nicht die bewusste Handlung des Liebens (ai suru) ausdrückt. Doch die Liebe wird in Japan eher in anderen Formulierungen ausgedrückt: „Mainichi anata no misoshiru ga nomitai“ („Ich möchte jedenTag deine Misosuppe essen“) oder „Issho no ohaka ni haitte kudasai“ („Komm bitte mit mir in unser Familiengrab”) sind veraltete Sprüche der Shōwa-Zeit, die inzwischen verpönt sind. Mehrdeutige Metaphern gelten jedoch noch heute als Liebeserklärung. So impliziert etwa „Lass uns beim nächsten Mal nach ○○ fahren” den eindeutigen Wunsch nach einem Wiedersehen.
Beispiele für Liebeserklärungen in Japan.
Diese Beispiele zeigen, dass es zahlreiche Optionen gibt, seine Gefühle auszudrücken:
Männer | Frauen | ||
Kondo wa ○○ ni ikō yo. | Lass uns beim nächsten Mal nach ○○ fahren. | Anata to issho ni iru to ochitsuku na. | Ich fühle mich geborgen bei dir. |
Kimi no sensu ga suki da. | Mir gefällt dein guter Geschmack. | Watashi wa ○○ dekinai kedo, anata sugoi ne. | Ich bewundere deine Fähigkeit, ○○ zu tun, was für mich unmöglich ist. |
Kimi no tame nara nandemo suru yo. | Für dich würde ich alles tun. | Chotto tasukete/ tetsudatte kureru? | Kannst du mir bitte helfen? |
Ano toki kara zutto suki datta yo. | Seit jener Zeit mag ich dich schon. | Kyō wa jinsei de ichiban tanoshikatta. | Heute hatte ich den schönsten Tag meines Lebens. (nach einem Date) |
Dieser Artikel erschien in der April-Ausgabe des JAPANDIGEST 2019 und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
Kommentare